Bleiernes Schweigen
Gefühl, das ganze Leben lang gerannt zu sein, gejagt von einem wilden Tier, dem ich nicht entrinnen kann. Die dumpfe Befürchtung, meine Existenz und meine Familie zerstört zu haben, weil ich eine Straße einschlug, die von Anfang an nach Tod roch.
Und ein Brief im Briefkasten.
Derselbe, der die ganze Zeit neben mir lag, während ich diese Zeilen schrieb.
Er beginnt so:
D iese Geschichte lässt sich nicht beweisen, und dennoch weiß ich, dass sie wahr ist.
Ich habe ihn oft gelesen. Es ist der Brief eines einsamen, aber nicht geschlagenen Mannes. Der Brief eines Freundes, der den Staffelstab weitergibt.
Der Brief hat die Lücken im Puzzle geschlossen. Es ist der Brief eines Menschen, der sich nicht unterkriegen lässt, der mit Papier und Tinte hinausbrüllt, was er nicht auf der Straße, in den Zeitungen oder im Fernsehen hinausschreien kann. Oder in einem Gerichtsaal.
Die Wirklichkeit gibt sich nicht mit kryptischen Details unter einer durchlöcherten Pappschachtel zufrieden. Oft sind ihr nicht einmal die Beweise genug.
Deshalb bin ich bis hierher gekommen. Das ist meine Geschichte. Ein Roman, von dem ich nicht glaubte, dass ich ihn schreiben würde.
Als ich aus Palermo zurück war, bin ich lange Zeit zu Hause geblieben. Ich habe eine neue Kindergeschichte veröffentlicht und mit der nächsten angefangen. Ich habe nachgedacht.
Ich habe so getan, als sei alles normal, als wären Daniele und Andrea nicht wieder in meinem Leben aufgetaucht, als wäre mein Vater am Herzinfarkt gestorben, als hätte das Auto, das Elena getötet hat, ein Nummernschild und einen betrunkenen oder übermüdeten Fahrer gehabt, der vergeblich versucht hat, uns zu helfen.
Dann, eines Morgens, habe ich beschlossen, dass das nicht genügte.
Ich bin zu einer Immobilienagentur gegangen und habe meine Wohnung zum Verkauf angeboten. Ich habe gesagt, ich würde ins Ausland ziehen und sie sollten sich um alles kümmern. Ich würde mich einmal in der Woche melden. Das war der erste Schritt gewesen.
Zehn Tage später habe ich diesen Ort gefunden. Es hatte genügt, eine Reise zu beenden, die ich einst auf der Hälfte abgebrochen hatte.
Ich bin ins Auto gestiegen, bin ganz gemächlich losgefahren, während mein Herz wie wild raste. Nach einer Stunde habe ich am Straßenrand angehalten und mich ganz dicht an den Abgrund gestellt.
Ich habe zu der Straße aufgeblickt, von der das Auto ohne Nummernschild gekommen war. Mein Atem hat jäh ausgesetzt, als dort plötzlich wieder ein Auto auftauchte. Diesmal ein schwarzes. Ein Kleinwagen.
Er kommt nicht meinetwegen.
Als er vorbeifuhr, habe ich einen Blick mit dem Fahrer gewechselt. Ein alter Mann mit seiner Frau.
Wenige Minuten später habe ich nach unten gesehen. Der Fluss hat noch immer dieselbe Farbe. Silbriges, rasch dahinströmendes Weiß. Flüchtiger Schaum, wo die Strömung stärker wird. Und Bäume ringsherum. Grüne, gelbe, orangefarbene, fast violette Blätter.
Die Stelle, an der mein Leben für immer gestorben ist, ist ein strahlendes Farbenmeer.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Ich weiß noch, dass ich ohne Musik weitergefahren bin. Nur die Straße und der Himmel.
Elena an meiner Seite.
Die Gewissheit, sie diesmal gerettet zu haben. Vorausgesetzt, die Wahrheit ist irgendjemandem nütze. Wenn sie meine Gedanken hörte, würde sie lächeln, das weiß ich.
Eine Woche darauf bin ich hier oben hingezogen. Meiner Tochter habe ich es erst hinterher erzählt. Sie weiß nicht, wo ich wohne. Anfangs hat sie noch versucht, es aus mir herauszubekommen. Dann hat sie aufgegeben. Zu dem, was passiert ist, hat sie keine Fragen gestellt. Sie hat nur einen Satz gesagt, in ihrem Italienisch, das sich langsam mit Englisch färbt.
»Ich bin bei dir.«
Seitdem sprechen wir uns oft, immer über die Webcam. Ich habe keine Telefonnummer mehr, es genügt mir, ab und an ihr Gesicht zu sehen. Wir reden wie Eltern und Kinder, die weit auseinander leben, sie erzählt mir von ihrem Leben, fragt nach meinen Büchern, wir lassen uns sachlich oder scherzhaft über die Ereignisse aus, die in der Welt passieren.
Wir streiten nicht mehr. Das einzige Geschenk in diesem ganzen Tod ist, dass wir zu einem normalen Verhältnis gefunden haben.
Und auch für sie habe ich alles aufgeschrieben. Für sie, die ebensowenig Giulia heißt wie es einen Daniele oder einen Andrea gibt. Die Namen zählen nicht. Nicht einmal meiner. Einzig auf die Geschichten kommt es an. Auf das, was sie erzählen und das, was sie
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