Bleiernes Schweigen
antwortet nicht auf Elenas Frage. Er lässt sich gegen die Rückenlehne fallen. Denkt nach, schüttelt den Kopf, lächelt. Dann dreht er sich um.
»Dies ist kein Spiel. Das waren eure Worte, okay? Schön. Aber ich bin auch keine Jukebox. Geldstück rein, und ich fange an zu singen. Nicht, dass ich nicht wollte, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich mit euch rede. Verstanden?«
»Und was ist der Grund?«
»Der Grund ist, Adriano, dass ich nicht weiß, ob ich meiner Welt trauen kann. Oder besser, ich weiß nicht, wem von den Leuten in meiner Welt ich trauen kann.«
»Und uns traust du …«
Er lacht.
»Bei allem Respekt, Adriano, ihr seid Vampire. Sobald ihr Blut riecht, stürzt ihr euch drauf und saugt alles in euch hinein. Es ist euer Hunger, dem ich traue.«
»Und du willst herausfinden, welche Unbekannten dir entgehen.«
Giuseppes Augen suchen die meiner Frau. Sein Blick sagt alles. Doch mein Vater ist derjenige, der die Entscheidungen trifft.
»Du musst mir sagen, wo ich dich erreichen kann.«
Die Antwort kommt brüsk und unmittelbar.
»Das kommt gar nicht in Frage. Ich weiß, wo ich euch finde, wenn es nötig ist. Und damit das klar ist, ich hab euch das alles erzählt, damit ihr versteht, nicht damit ihr darüber schreibt. Damit ihr den Geschehnissen einen Schritt voraus seid und sie euch nicht überrumpeln. Und selbst wenn ihr einen Artikel schreiben wolltet, glaube ich nicht, dass sie den veröffentlichen würden. Nicht jetzt. Nicht alles. Vielleicht in ein paar Monaten. Das Bild ist noch zu groß, auch wenn sie versuchen, es auf ein Blatt Papier zu pressen.«
Adriano wechselt einen Blick mit Elena. Meine Frau blinzelt.
»Wir müssen uns wiedertreffen.«
Giuseppe nickt. Sie drücken einander die Hand.
»Es ist nicht nur wegen des Blutes, oder?«
»Nein, Adriano, nicht nur deswegen.« Er hält inne, ordnet die Gedanken. »Da gibt es einen Mann, den ich vor einer ganzen Weile kennengelernt habe. Einmal habe ich ihm sogar das Leben gerettet. Na ja, der meinte, um das System zu verstehen, muss man dem Geld folgen. Inzwischen gibt es außer euch noch einige, die dem Geld auf der Spur sind. Aber nicht alle schauen dabei nach links und rechts.«
Er öffnet die Wagentür.
»Deinen Freund mit der Zigarette siehst du nicht mehr, stimmt’s?«
»Schon seit einer Weile nicht.«
»Das dachte ich mir.«
Er steigt aus. Ehe er die Tür zuwirft, schiebt er noch einmal den Kopf in den Wagen.
»Da ist noch etwas, das ich euch nie gefragt habe. Wieso wart ihr eigentlich ausgerechnet an dem Tag in Palermo? Das war vielleicht ein Zufall, findet ihr nicht?«
Adriano und Elena sehen einander an. Sie haben im Laufe der Monate oft darüber gesprochen, darüber, dass die Reise kein Zufall gewesen sein könnte. Dass der Mann mit der Zigarette sie absichtlich an dem Tag dorthin geschickt und das Treffen an dem Ort und zu dieser Uhrzeit arrangiert hat, um sie in der Nähe zu wissen, wenn es passiert.
Sie würden es gern von ihm erfahren. Fragen stellen. Wenn er nur wieder auftauchen würde.
»Es gibt solche und solche Wahrheiten. Obgleich die Welt voller Menschen ist, die glauben, alles über ihren Nachbarn oder dessen Nachbarn zu wissen, ist das, was man nicht weiß, in Wirklichkeit unendlich, die Wahrheit über uns ist unendlich. Ebenso wie die Lügen.«
Philip Roth, Der menschliche Makel
Es hat aufgehört zu regnen und es ist fast Abend. Ich fühle mich komisch. Mein Kopf tut mir weh, ein dumpfes Wummern hinter dem linken Auge, von der Schläfe bis zum Wangenknochen. Wenn die Worte sich nicht zu helfen wissen, muss der Körper eine Antwort finden.
Adriano hört auf zu erzählen und gießt sich ein Glas kalten Tee ein.
»Hat die gleiche Farbe wie Whiskey«, sagt er. Und ich muss daran denken, dass es eine Zeit gab, in der mein Vater Alkoholprobleme hatte. Noch so etwas, das ich nicht bemerkt habe und dem ich nicht auf den Grund gehen will. Es gibt noch zu viele offene Fragen.
Als meine Mutter gestorben ist, haben wir monatelang nicht miteinander geredet. Ich ging jeden Tag zu ihm, machte ihm etwas zu essen und blieb nach dem Abendbrot bei ihm sitzen. Ich lauschte den ständigen Anrufen, die er von Kollegen, Freunden und Menschen erhielt, von denen ich noch nie etwas gehört hatte.
Ich hielt ein Buch in den Händen und las. Hin und wieder tat ich nur so und wühlte in blinder, paradoxer Angst, er könnte mich etwas fragen, in meinen Gedanken. Wäre ich nicht bewusstlos geworden, als Elena
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