Bleiernes Schweigen
gestorben ist, wäre dasselbe passiert. Wir gleichen einander; der Schmerz taucht irgendwo ab, tief in uns drin. Er findet einen Winkel, nistet sich darin ein und fault langsam vor sich hin. Bis er sich eines Tages alles einverleibt, wie eine Hand, die aus dem Wasser schießt und einen unterduckt. Man sieht sie nicht kommen, sie macht kein Geräusch und ist einem unbemerkt gefolgt. Sie drückt einem die Luft ab und womöglich weiß man noch nicht einmal warum.
Als wir die ersten Worte miteinander gewechselt haben, saßen wir genauso da wie jetzt. Einer neben dem anderen, in diesem Zimmer. Ich weiß nicht mehr, was wir einander gesagt haben, aber ich bin mir sicher, dass er damals auch getrunken hat. Eine Flüssigkeit derselben Farbe. Tee war es nicht.
»In deiner Schilderung fehlt Solara.«
Adriano scheint aus einem langen Traum zu erwachen. Er sieht mich überrascht an. Nickt kaum merklich. Stellt das Glas ab.
»In meiner Schilderung fehlt vieles. Und daran wird sich auch nichts ändern.« Er reibt sich die Augen. »Du musst mir verzeihen und Geduld haben. Diese Geschichte … Es ist, als würde ich sie mir selbst erzählen. Und vielleicht habe ich das all diese Jahre auch getan.«
Er macht eine Pause, fährt sich mit der Hand übers Gesicht.
»All das, was uns Giuseppe berichtet hat, ist wirklich passiert. Ende des Monats verhaften sie Curatolo und hängen ihm das Attentat an. Der Leitende Oberstaatsanwalt von Caltanissetta sagt, es gibt objektive Beweise. Am Tag vor Weihnachten ist Giordano dran, Beteiligung an einer mafiösen Vereinigung. Einen knappen Monat zuvor hatten wir Giuseppe wiedergesehen. Ich erinnere mich, dass kurz davor der Verwaltungssekretär der Sozialisten an einem Herzinfarkt gestorben war. Ende Oktober wird er der Korruption beschuldigt, und Anfang November, gleich am zweiten vielleicht, stirbt er. Ich hatte die ganze Sache genau verfolgt und war noch immer an dem dran, was mir von Mirri berichtet worden war. Elena hingegen war mit Giuseppes Schilderungen beschäftigt. Die Angestellten des CERISDI, eine mögliche Auswertung der Telefonlisten der Borsellino-Familie, Salvatore Principato. Die ganze Palette. Einige Dinge ließen sich ums Verrecken nicht überprüfen, aber sie hatte doch genug zusammengetragen, um davon auszugehen, dass die Geschichte stimmte. Zumindest in wesentlichen Teilen. Als wir ihn Anfang November wiedertreffen, sagt er uns, dass sich etwas geändert hat.«
»Hattet ihr etwas geschrieben?«
»Nein, nichts. Ich hatte mit dem Chefredakteur darüber geredet, ohne konkret zu werden. Und tatsächlich gab es so gut wie nichts Hieb- und Stichfestes. Außerdem fiel die Geschichte nicht in mein Ressort. Wären wir an jenem Sonntag nicht in Palermo gewesen, hätten wir nicht einmal die ersten beiden Stücke geschrieben. Darum kümmerte sich ein Kollege, der jeden Furz über die Bosse wusste und Curatolo genauso fragwürdig fand wie wir. Aber gegen den Strom zu schwimmen war offenbar gar nicht so ohne. Sie hatten ihn geschnappt, die Staatsanwaltschaft behauptete, es lägen erdrückende Beweise gegen ihn vor, und die Tatsache, dass er brav im Knast saß und die Klappe hielt, machte aus ihm keinen Heiligen.«
»Also trefft ihr euch wieder mit Giuseppe.«
»Ganz genau. Er erzählt uns von weiteren Telefonnummern. Ein Boss aus Trapani habe am Tag von Borsellinos Tod in ein paar Häusern angerufen, die auf Borsellinos Weg zur Via d’Amelio liegen. Und der Verfassungsschutz habe ebenfalls dort angerufen. Die Sache liefe genauso wie das Mal davor. Nur die Telefonnummern hätten sich geändert. Dann zieht er den Kreis noch größer. Er erzählt, die Beziehungen zwischen Mafia und Freimaurern in Trapani seien seit Ewigkeiten sehr eng und Falcone habe vor seinem Tod ausgerechnet zu den Freimaurern, zu Gladio und zu möglichen Zusammenhängen mit politischen Verbrechen ermittelt. Er sagt, als Falcone nach Rom gegangen sei, habe er die Ermittlungen fortgesetzt, obwohl ihm das eigentlich nicht mehr möglich gewesen sei. Er habe dieselben Spuren verfolgt wie vor seiner Versetzung ins Ministerium. Vielleicht sei er sogar fortgegangen, weil der Staatsanwalt von Palermo nicht mit ihm einverstanden gewesen sei. Drei Wochen vor seinem Tod sei er auch nach New York gefahren, um sich mit Buscetta zu unterhalten.«
Er sieht mich an. Ich will keine Fragen stellen, nur wissen, worauf er hinaus will.
»Es sah so aus, als wollte Giuseppe uns auf eine bestimmte Spur bringen. Und so kommt er auf
Weitere Kostenlose Bücher