Bleiernes Schweigen
will ihn etwas fragen, irgendeine der zahllosen Fragen herausfeuern, die ich zu diesem Wort im Bauch habe. Angst. Fragen, die sich um mein Leben drehen, die mein Leben belagern, die Teil meines Lebens sind und die ich auch dieses Mal nicht über die Lippen bringe.
Es klingelt an der Tür. Nachdrücklich. Zwei Mal.
»Erwartest du jemanden?«
Adriano schüttelt den Kopf.
»Gehst du bitte mal nachschauen?«
Ich nicke, schnaube die Wut heraus und gehe zur Tür.
Der Mann ist weder jung noch alt. Er trägt eine schwarze Baseballkappe, eine Expressbotenuniform, eine Brille mit rotem Rahmen, hat schmale Hände und ist außer Atem. Er hält ein Päckchen in der Hand und fragt nach meinem Vater.
»Ich habe hier eine Lieferung«, erklärt er.
Das Päckchen ist rechteckig und so groß wie eine Zeitung.
»Sie können es mir geben.«
»Ist er nicht zu Hause?« Die Schroffheit seiner Frage scheint ihm sofort unangenehm zu sein. »Ich muss es persönlich übergeben, entschuldigen Sie. Das sind die Vorschriften.«
»Da bin ich.«
Adrianos Stimme hinter mir. Ich habe ihn nicht kommen hören, ihn und seinen verdammten Rollstuhl. Ihn und dieses Botenarschloch, das uns ratlos anglotzt.
Er nimmt das Päckchen, unterschreibt, ich kehre ins Wohnzimmer zurück und setze mich.
Ich höre, wie die Tür sich schließt. Als mein Vater wieder hereinkommt, sieht er sehr müde aus. Ich sehe den Inhalt des Päckchens nicht. Er hat es aufgemacht, will es auf den Tisch legen und überlegt es sich anders. Er lächelt kurz und platziert seinen Rollstuhl neben mir.
Ich suche nach einer Möglichkeit, das Gespräch nicht versiegen zu lassen.
»Gestern Abend ist Marcello Reale bei mir gewesen.«
»Und du hast ihn hereingelassen?«
Ich tue so, als ginge die Ironie an mir vorbei, und erzähle alles.
»Glaubst du ihm?«
»Bis heute hätte ich noch nicht einmal geglaubt, dass du Leute vom Geheimdienst kennst …«
Er sieht weg und fährt sich mit den Händen übers Gesicht. Seufzt. Ehe er etwas sagt, schließt er kurz die Augen.
»Vergiss es.«
»Was redest du da für ’ne Scheiße?«
Ich habe ihm noch nie so geantwortet, aber er kümmert sich nicht drum.
»Vergiss es«, wiederholt er. »Niemand ist hinter dir her. Und ich habe dir gerade gesagt, dass Reale dir Bockmist erzählt hat.«
»Und genau das ist das Problem. Wieso?«
Er reibt sich die Augen. Sie sind rot.
»Wir reden darüber, okay?«
Ich nicke automatisch. Ich bin total am Ende.
»Ich geh nach Hause, ich bin totmüde.«
Ich stehe auf. Seine Frage lässt jegliche meiner Bewegungen gefrieren.
»Hat Giulia dir gesagt, dass sie wegzieht?«
»Was tut sie?«
Adriano lacht.
»Dieses Mädchen ist ein verdammtes … Sie geht nach New York. Auf die Journalistenschule der Columbia.«
Jetzt bin ich dran mit Lachen. Eine hysterische Überreaktion.
»Wo geht sie hin?«
Er legt mir eine Hand auf den Unterarm.
Vor einer halben Ewigkeit war die Columbia mein Traum. Alles war bereit. Doch im letzen Moment habe ich einen Rückzieher gemacht. Die Feigheit, die Giulia mir vorwirft, könnte uralte Wurzeln haben.
»Du hast richtig gehört. Und du solltest stolz auf sie sein.«
Das bin ich, würde ich gerne sagen. Und ihm dann den Schädel einschlagen. Stattdessen beschränke ich mich auf eine Frage. Sinnlos. Überflüssig.
»Du hast damit natürlich nichts zu tun, stimmt’s?«
Er zieht seine Hand von meinem Arm.
»Ruf sie an, na los. Dann erfährst du auch, dass sie mit einem Typen namens Michael zusammen ist. Ein netter Junge, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Das Auto bremst ab und parkt.
Am Steuer sitzt ein kurzhaariger Mann. Er trägt dunkle Jeans, einen Rundhalspulli, eine schwarze Jacke und eine teure Uhr am linken Handgelenk. Er könnte um die fünfzig sein und ist bestimmt öfter im Solarium als es seiner Haut lieb ist.
In der Raststättenbar bestellt er einen Espresso. Beim Trinken blättert er lustlos in den Zeitungen. Er sieht dreimal auf die Uhr und versucht, dabei nicht ungeduldig zu wirken. Teilnahmslos spaziert er zwischen den Regalen herum, liest die Zutaten auf einer Kekspackung, besieht sich die Wurstwaren, das Kinderspielzeug, die Nudeln. Greift nach einem Sachbuch über Immigration. Er hält es fest wie ein Tier, das nicht stillhalten will.
»Schund.«
Eine Stimme hinter ihm. Der Mann dreht sich um.
»Bücher sind Zeitverschwendung«, entgegnet er und lässt das Buch zwischen den Pornozeitschriften stehen.
»Rauchst du?«
»Seit über
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