Bleiernes Schweigen
Hirn mich an der Nase herumführt. Der Sog der Vergangenheit ruft die Truppen zurück, doch eine Kapitulation ist das nicht.
Ich trinke einen Schluck Milch aus der Packung, sehe einem Tropfen nach, der auf den Küchenfußboden fällt, wische ihn weg und kehre aufs Sofa zurück. Der Film hat einer Werbung für eine Sex-Hotline Platz gemacht. Ich drücke auf der Fernbedienung herum, nur um dem raschen Wechsel der Bilder zuzusehen, schalte aus.
Mein Kopf scheint zu platzen, und als ich mich ins Bett lege, bin ich sicher, dass mich der Rest jenes Frühlingstages auch noch heimsuchen wird, sobald ich die Augen schließe. Doch es passiert nicht.
Ich brauche keine Alpträume, um mich an die entscheidenden Dinge zu erinnern. Der blaue Wagen war ein Golf. Fast neu, nicht einmal ein Jahr alt. Zum Mittagessen hatte ich ein paar Gläser Wein getrunken. Rotwein. Aber die Farbe spielt keine Rolle. Der Mann im Auto ist mein Vater.
Die Frau im Auto hieß Elena und war meine Frau. Sie starb am Samstag, den 7. Mai 1994. An jenem Samstag, an jenem Nachmittag, auf jener Reise, die ich träume, als wäre ich ein Beobachter.
Ich habe sie getötet, weil ich nach rechts ausgewichen bin, um dem BMW zu entgehen.
Wir sind die Böschung hinuntergeflogen und im Fluss gelandet. Mein Vater ist seither von der Hüfte abwärts gelähmt und kann sich an nichts erinnern. Ich habe zwei Monate im Koma gelegen und bin unversehrt daraus erwacht, sofern Elenas Tod, die Schuldgefühle, die Wut und die Trümmer, die mein Verhältnis zu meiner Tochter unter sich begraben haben, nicht als physische Einschränkung zählen.
Wer auch immer die Insassen des roten Wagens gewesen sein mögen, sie haben entweder nichts mitbekommen oder wollten sich nicht einmischen. Stundenlang haben wir in dem Fluss gelegen, ehe ein Spaziergängerpaar uns bemerkt hat. Soweit ich weiß, hätte man Elena so oder so nicht retten können.
Der BMW wurde bis heute nicht gefunden. Ich glaube, nach dem Ergebnis meines Alkoholtests hat man von einer ernsthaften Suche abgesehen, doch ich weiß, dass es ihn gibt, irgendwo da draußen ist er. Und genauso weiß ich, dass ich nicht betrunken war und am Tod meiner Frau keine Schuld habe.
Ich weiß es, weil es in all den Erinnerungen an diesen Moment eine Sache gibt, die weder Reue, Angst, Trauer, Schmerz noch alle Alpträume der Welt haben ändern können.
Jedes Mal, wenn ich daran denke, jedes Mal, wenn ich diesen Augenblick träume und daraus erwache, schnürt mir etwas die Kehle zu.
Ein Bild.
Ein Bild, mit dem ich leben muss. Über das ich mir den Mund fusselig geredet habe. Von dem nur ich erzählen kann, weil niemand mehr da ist, der es gesehen hat, der davon weiß, der sich daran erinnern kann.
Die Schnauze des BMW. Ein neues Auto. Aufgetaucht aus dem Nichts. Ein Auto ohne Nummernschild.
Die Dinge ändern sich schnell. Es genügt eine Kleinigkeit, ein Standpunkt, den man nicht in Betracht gezogen hat. Eine Erinnerung. Ein Wort. Seit dem Tag, an dem ich zu der Verabredung im Gericht gegangen bin, denke ich daran.
Wenn Elena sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, pflegte sie zu sagen, der Gedanke, der sie nicht loslasse, sei wie ein zweites Herz. Man merkt nicht, dass man es hat, und dennoch kann man ohne es nicht leben.
Kurz bevor Michela Santini starb, hat mein zweites Herz angefangen zu schlagen. Es ist ein seltsames Herz, eines, das ich kenne, sein Puls ist fast vertraut. Es macht mir Angst und es macht mich neugierig.
Seit jenem Tag ist ein Monat vergangen. Ich habe meine Tochter nicht mehr angerufen. Wenn ich es täte, würde sie fragen, ob ich mit ihrem Großvater geredet habe, ob ich versucht habe herauszufinden, was diese junge Frau mir sagen wollte. Ob ich die Flinte ins Korn geschmissen habe. Bis zu diesem Morgen hatte ich keine Antwort.
Die Entscheidung ist ganz plötzlich gekommen, und nicht aus Lust aufs Geschichtenerzählen, aus Langeweile oder aus einer blöden Wette mit mir selbst. Sondern aus Angst. Aus Grauen.
Diese junge Frau ist gestorben, weil sie mit dir sprechen wollte, hat Giulia gesagt. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte nicht das Gleiche gedacht.
Ich habe der Polizei nicht alles gesagt.
Niemand würde mir wirklich glauben, genauso, wie niemand wirklich an das Auto ohne Nummernschild geglaubt hat. Genau genommen ist das eine Falschaussage. Ich habe eine plausible Geschichte erzählt und ein Detail verschwiegen, das ich niemals vergessen werde, dessen Existenz jedoch niemand
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