Bleiernes Schweigen
sehen will.
Ein Wort.
Sechs Buchstaben, drei Silben, deren Klang mir allein beim Gedanken daran Angst einjagen. Drei Konsonanten und drei Vokale, von deren Bedeutung ich nicht den leisesten Schimmer habe, und dennoch sind sie genau jenes Detail, das alles verändert und das Domino des Grauens in Gang gesetzt hat, dem ich nur entrinnen kann, wenn ich mich ihm stelle.
Also habe ich heute Morgen den Computer angeschaltet und sämtliche Nachrichten zu Michelas Tod zusammengesucht.
Angelo Mazza, der Mann, der sie erschossen hat, war flüchtig. Angeklagt des Mordes an zwei Drogendealern, die ein bisschen zu übermütig geworden waren. Drogen. Dieselbe Branche wie Nicola Reale, Michelas Mandant, jüngerer Bruder von Giuseppe Reale, Mazzas ehemaligem Geschäftspartner, der dann mit der Justiz zusammengearbeitet hat. Er hat Mazza die beiden Toten angehängt. Nicola hingegen war verpfiffen worden. Angeblich hatte er mehrere Kilo Stoff in seiner Wohnung. Er sollte ihn für einen Freund aufbewahren, hatte er erzählt, doch jetzt ist es zu spät, der Sache auf den Grund zu gehen.
Ich heiße Angelo Mazza, und ich habe einen Verräter bestraft.
Ich werde diesen Satz nicht los. Der letzte, den ein verzweifelter Mann sagt, ehe er sich die Birne wegballert. Die Worte eines Mörders, der beschließt, in einen Gerichtssaal zu spazieren und sich das Leben zu nehmen, um den Bruder des Mannes umzubringen, der ihn ans Messer geliefert hat.
Ich habe einen Verräter bestraft.
Die Worte sind wichtig und schwer zu greifen. Sie schlüpfen einem durch die Finger und ändern ihre Bedeutung. Sie verschleiern, wenn sie zu enthüllen scheinen, und führen den Verstand in die Irre.
Angelo Mazza tötet Giuseppe Reales Bruder und bringt sich um. Doch zunächst kriegt jeder der beiden Polizisten, die ihn in den Verhandlungssaal bringen, eine Kugel ab. Michela zwei.
Ich habe einen Verräter bestraft.
Und wenn der Verräter nicht Giuseppe, sondern Nicola wäre? Wenn die Strafe nicht der Schmerz des überlebenden Bruders, sondern der Tod des Ermordeten wäre? Scheinbar sinnlose Fragen. Eine lächerliche, verstiegene Verschwörungstheorie. Ein Spiel, mit dem man sich beim Abendessen mit Freunden die Zeit vertreiben oder aus dem man einen Roman machen kann.
Doch dies hier ist kein Spiel. Seit jenem Tag denke ich darüber nach, ständig, bei jedem Atemzug. Dies ist mein zweites Herz.
Als Angelo Mazza zum letzten Mal abgedrückt hat, war Michela noch am Leben. Sie war gekommen, um mich zu treffen, sie hatte etwas zu sagen und musste es loswerden. Und wenn es nur eine Andeutung wäre. Ein Wort. Drei Silben. Sechs Buchstaben.
Solara.
Solara, hat sie gewispert.
Solara, hat sie versucht meinen Augen zu sagen, die sie anstarrten, ohne zu begreifen.
Solara, hat sie wiederholt. Und beim letzten Mal habe ich sie verstanden.
Dann ist sie gestorben, mit diesem Wort auf den Lippen, und ich habe der Polizei nicht gesagt, was sie mir zugeflüstert hat. Ich habe ihnen nur erzählt, dass sie mir etwas sagen wollte, es aber nicht geschafft oder ich es nicht verstanden hätte.
An die Tage vor dem Tod meiner Frau kann ich mich sehr genau erinnern. Jäh endendes Glück hinterlässt der Erinnerung die kleinsten Details.
Es war ein regnerischer Abend. Ein plötzliches, heftiges Gewitter. Wir waren zu Hause. Ich las Amerikanisches Idyll und sie sah ihre Notizen durch. Sie wirkte abwesend, als würde sie vergeblich um etwas kreisen. Sie fing an, auf einen Notizblock zu kritzeln. Das machte sie oft, um ihre Gedanken zu sortieren. Dann hat sie aufgehört. Sie ist aufgestanden, und der Block ist zu Boden gefallen.
Sie hat ihn liegenlassen, ist mit zwei Bieren in der Hand aus der Küche zurückgekommen und hat mich geküsst. Ich habe das Buch zugeschlagen, mit ihr angestoßen, und dann haben wir auf dem Sofa miteinander geschlafen, während dem Regen Hagel und schließlich Stille folgte.
Es war das letzte Mal.
Als wir aufgestanden sind, um ins Bett zu gehen, habe ich den Block aufgehoben und zu ihren Sachen auf den Tisch gelegt.
Dort stand nur ein einziger Satz, ein Dutzend Mal hintereinander. Die beharrliche Wiederholung einer Obsession. Eine Frage, der ich damals keine Bedeutung beimaß und die jetzt sämtlichen Raum zwischen meinen Gedanken einnimmt. Die einzige, auf die ich eine Antwort finden will, egal, was es kostet.
Wer ist Solara?
Der Mann verlässt das Zimmer, grüßt jemanden, geht die Treppe vier Stockwerke hinunter und tritt in die frische
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