Der Semmelkoenig
1
Es war ein warmer, sonniger Frühlingsmorgen. Der Waldkindergarten »Die Gnome« füllte sich so nach und nach. Mit der Aussicht auf einen langen Arbeitstag als Familienmanagerin zerrten einige gehetzte Mütter ungeduldig ihre Sprösslinge den kleinen Hang hinauf. Neben der Holzhütte, vor der schon die als Tische fungierenden Baumstämme für das Frühstück gedeckt waren, standen – einem Empfangskomitee gleich – die Erzieherinnen Erika und Anni.
»Also, der Oskar hat seinen Inhalator im Rucksack. Man weiß ja nie.«
Susanne Klöter war eine vorsichtige Mutter. Zwar war Oskar im Grunde ein gesundes Kind – man könnte sagen: dank des Waldkindergartens –, aber Susanne war gerne vorbereitet, denn nicht umsonst las sie schon seit ihrer Empfängnis vor fünfeinhalb Jahren jeden Ratgeber über Erziehung und Kinderkrankheiten.
»Is scho recht, Frau Klöter«, Anni, eigentlich äußerst kompetent und ausgestattet mit der großen Herzlichkeit einer typischen Einwohnerin aus der Region, war heute nicht besonders gut gelaunt. Grund hierfür war die neue Praktikantin Heidi, die sich offensichtlich schon wieder verspätet hatte. Was war nur mit diesem Mädchen los? Da hatte sie nun einmal die Gelegenheit, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, und was tat sie? Sie kam unpünktlich, saß gelangweilt zwischen den Kindern und brachte lediglich etwas Energie auf, wenn es darum ging, mit dem einzigen Erzieher in der Truppe – Wolfgang – oder den selten erscheinenden Vätern zu flirten. Dass Wolfgang auch noch nicht da war, übersah Anni großzügig. Er war eben so: ein Mann und noch dazu sehr gut aussehend und charmant.
»Und ich find es auch nicht so gut, dass der Franzi immer den Oskar kratzt!«
»Mei Frau Klöter, des san Buam. Die raufan amoi!«
»Nein, Anni, raufen darf kein Ausweg sein! Konflikte sollten auf Diskussionsebene gelöst werden und nicht mit den Fäusten. Also, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie darauf achten würden!«
Bevor aber Anni jetzt ihren ganzen Groll an der sich so sehr anbiedernden Mutter auslassen konnte, griff Erika ein: »Ich hab mal ein Auge auf die zwei. Aber ich denke, das ist alles halb so wild. Eigentlich sind sie ja total dicke. Sehen Sie selber: ein Herz und eine Seele.«
Sie hatte recht. Oskar und Franzi saßen einträchtig nebeneinander und verglichen interessiert ihre Popel.
2
Wolfgang hatte eine lange Nacht hinter sich. Etwas verschwommen kam die Erinnerung. Erst war er zur »Gustel« gegangen, weil er die Zeit überbrücken wollte. Dort war er seinen Freunden in die Arme gelaufen. Aus der einen Maß wurden zwei, aus zweien drei, und zur vorgerückten Stunde gab es keinen Grund mehr, warum er nicht noch in der örtlichen Diskothek hätte vorbeischauen sollen. Dort hatte er sich blendend amüsiert. Grinsend dachte er an ein paar sehr nette Mädchen, die jetzt mit ihren Telefonnummern in seinem Handy verewigt waren. Welche davon sollte er demnächst anrufen? Schließlich stand das Wochenende vor der Tür! Ach, das Leben und die Frauen meinten es gut mit ihm. Lächelnd drehte er sich auf die Seite, um noch ein bisschen weiter zu dösen, da fiel sein Blick auf den Wecker. Scheiße! Er hatte verschlafen. Mühsam rollte er sich aus dem Bett. Sein Kopf dröhnte, seine Zunge fühlte sich pelzig an, und als er einen Blick in den Spiegel warf, wäre er vermutlich erschrocken, wenn nicht sein Hirn so langsam gearbeitet hätte. Aber es half nichts. Er musste zur Arbeit. Seufzend stellte er sich unter die Dusche und drehte den Kaltwasserhahn auf.
3
»Wer ist denn das?«
Kommissar Maus blickte irritiert auf einen Mann, der unscheinbar auf dem Stuhl in der Ecke des Pausenraums saß und offensichtlich auch nicht so recht wusste, was er hier sollte.
»Aber Herr Maus, das ist doch der Typ aus Hannover«, klärte ihn seine Assistentin Steffi flüsternd auf. »Der ist doch wegen des Austauschprogramms ›Nord trifft Süd, wir lernen voneinander‹ hier. Haben Sie das Memo aus München denn nicht gekriegt? Wir mussten doch deswegen den Sedelmayer nach Dessau schicken.«
»Was? Der Sedelmayer ist nicht mehr da? Äh, das ist mir offenbar entgangen. Und von was für einem Memo sprechen Sie denn?«
Jetzt war seine Verwirrung komplett. Angestrengt versuchte er, sich an alle elektronischen Postsendungen zu erinnern, die er wie immer mit Mühen – denn Maus war vom alten Schlag und zog Papier dem Bildschirm vor – geöffnet und auch schon teilweise gelesen hatte. Da kamen ja täglich
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