Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
01 | ERINNERUNGEN
Es war nicht der perfekte Moment für einen Abschied. Ninive stellte das mit einem Anflug von Bedauern fest. Natürlich, es kam ihr eigentlich sehr gelegen. Sie war niemand, dem emotionale Momente besonders behagten. Es lag nicht in ihrer Natur. Und dennoch … es hätte so viele passendere Möglichkeiten gegeben. Strömender Regen beispielsweise, der auf den Asphalt, auf die Wellblechdächer der kleinen Wartehäuschen und das knisternde Plastik der Müllbeutel in der Mitte des Bahnsteigs prasselte – ein Himmel, der den Abschied zweier alter Freunde beweinte. Oder ein sanfter, kühler Sonnenuntergang, dessen Licht wehmütig auf die beiden Personen fiel, die sich auf sehr lange Zeit – vielleicht für immer – Lebewohl sagten.
Stattdessen war die Luft unbeweglich und stickig zwischen den hohen Wänden aus Schallabsorbern, die das Gleis und den Bahnsteig von der Umgebung trennten. Die Luft war etwas zu warm für den späten Herbst und der Boden wiederum kalt. Das Licht war ein uninspiriertes Grau, nicht leuchtend genug um zu wärmen, nicht dunkel genug um die beiden im Schein einer flackernden Lampe wie in einer Theaterszene einzufangen. Sie waren nur zwei Personen auf einem Bahnsteig, die ein betont alltägliches Gespräch führten, während der Zug auf die Minute pünktlich ins Gleis einfuhr.
„Es ist ein sonderbarer Moment, oder nicht?“, brachte Ninive nach Minuten belanglosem Smalltalk schließlich hervor, als der Zug gerade mit einem ohrenbetäubenden Zischen der Druckluftbremsen zum Stehen kam. Rasmus runzelte die Stirn und deutete an, dass er nichts verstanden hätte. Ninive wiederholte ihre Frage.
„Ja, ein wenig schon“, entgegnete Rasmus, „es fühlt sich viel zu normal an.“
„Vielleicht verdrängen wir es schon jetzt?“
„Vielleicht … ich habe Angst vor dem Moment, in dem mir klar wird, dass du wirklich gegangen bist, Ninny. Ich würde gerne mit dir tauschen. Du wirst in nächster Zeit so beschäftigt sein, dass du wenig Zeit haben wirst, über solche Dinge nachzudenken.“
„Ich weiß nicht, Rasmus. Es steht vorher eine lange, einsame Fahrt an … lang genug um über viele Dinge nachzudenken.“
„Mit mir tauschen würdest du dennoch nicht wollen, oder?“, entgegnete Rasmus achselzuckend.
Ninive drehte sich von ihm ab und beobachtete, wie die Türen des Zugs langsam aufglitten. Es waren nur sehr wenige Reisende, die außer ihr auf diesen Zug warteten. Das war nicht weiter verwunderlich, denn er hielt nur an wenigen Forschungsstationen außerhalb von Paris und endete schließlich an einem Militärflughafen. Wer hier ein- oder ausstieg, gehörte entweder einem der Institute oder dem Militär an. „Ich sollte einsteigen“, murmelte Ninive schließlich.
Ihr Abteil war für einen Zug geräumig. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein großer Sessel mit Beistelltisch direkt an einem der Fenster, ein kleines, separates Bad mit Whirlpool. Ninives eigene Wohnung, die sie erst vor wenigen Tagen geräumt hatte, war nicht größer und definitiv spärlicher eingerichtet gewesen. Und dort hatte sie immerhin fast 15 Jahre gewohnt.
„Es ist hübsch hier“, bemerkte Rasmus anerkennend und stellte einen ihrer beiden großen Koffer vor einer kleinen Kleiderkommode ab.
„Ich weiß nicht, ob ich mit so viel Luxus zurechtkomme“, entgegnete Ninive mit einem zufriedenen Lächeln.
„Dann warte ab, bis du erst an Bord des Schiffes bist. Wenn diese Broschüre stimmt, die du mir gezeigt hast, dann ist deine Unterbringung dort fast zehnmal so groß.“
„Diese Broschüre, Rasmus, ist mein Einsatzprotokoll. Aber du hast Recht, ich hoffe, ich werde mich dann nicht schon in meinen eigenen vier Wänden verlaufen. Dennoch … mir fehlt meine Wohnung jetzt schon. So viele Erinnerungen habe ich dort zurückgelassen.“
„Erinnerungen lässt man nicht zurück, Ninive, das ist das Schöne daran. Sie begleiten dich, egal wo du bist.“ Rasmus machte eine Pause und warf einen neugierigen Blick in das kleine Bad. „Erinnerst du dich zum Beispiel daran, wie wir das erste Mal zusammen dein Bad benutzt haben?“
Ninive hatte gehofft, dass er ihre gemeinsame Vergangenheit nicht mehr ansprechen würde. Daran zu denken schmerzte sie. Rasmus war für sie schon seit einigen Jahren nur noch ein guter Freund und kein Liebhaber mehr, aber es hatte eine Zeit gegeben, da wäre ihr der Gedanke, den Rest ihres Lebens ohne seine Nähe zu verbringen, vollkommen absurd vorgekommen. Sie schüttelte den
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