Die Chance seines Lebens
Die neue Schule
Der Sommer neigte sich langsam dem Ende entgegen. Die Blätter an den Bäumen verfärbten sich, und der Wind trieb sie schon wirbelnd durch die Gegend. Die letzten warmen Sonnenstrahlen spiegelten sich auf den Gesichtern der Jungen und Mädchen. Lärmend und lachend näherten sie sich der Schule. Heute begann nach den langen Sommerferien wieder der Unterricht. Überall tummelten sich vor dem Gebäude kleine Gruppen. Manche Schüler wurden laut gerufen und johlend begrüßt. Andere gingen ruhig und vollkommen versunken in ihre Klassenräume. Und dann waren da die Neuen, die sich suchend umschauten und unschlüssig vor dem Eingang verharrten.
Nein, dies war keine Vorzeigeschule, der äußere Eindruck täuschte nicht. Der Putz rieselte von der Außenmauer, und die Farbe blätterte an den Fenstern und Türen ab. Das einzige Grün spendete ein großer Ahornbaum, mitten auf dem Schulhof. Die Räume hätten dringend einen frischen Anstrich gebraucht, das Mobiliar war abgewetzt und mit Strichen sowie Klecksen von Generationen von Kugelschreibern und Füllern verziert. Der Gang zur Toilette wurde in vielen Fällen vermieden, denn die sanitären Einrichtungen waren nicht nur veraltet, sondern auch dauernd zugemüllt. Aber wofür sollte hier Geld ausgegeben werden? Nach kurzer Zeit würde es ja wieder so aussehen. Die Klassen waren zu groß, und beherbergten Schüler aller Nationalitäten. Rivalitäten und soziale Konflikte waren an der Tagesordnung. Und dennoch gaben sich die Lehrer Mühe, Ordnung in das Chaos zu bringen und den Kindern etwas zu vermitteln. Aber manchmal kamen Tage, da würden sie lieber das Handtuch werfen. Eine Schule mitten in der Großstadt Duisburg und dann auch noch in einem Problembezirk, das bedeutete kein Zuckerschlecken. Die Kids hatten trotzdem nur diese eine Chance. Das wussten sie, und das wussten die Lehrer; dennoch tobte hier jeden Tag der Machtkampf zwischen den Generationen.
Den Rucksack auf der Schulter humpelte Fabian in das Gebäude.
Ein Neuer? Eine Gruppe Jugendlicher drehte ihre Köpfe in seine Richtung, und einer rief laut: „Hey Quasimodo, du bist hier fehl am Platze, geh mal in deine Kathedrale zurück!“
Alle lachten über diesen Witz.
Fabian zog seinen Kopf ein, er hatte ähnliche Scherze schon so oft gehört. Es hing ihm zum Halse raus, immer das gleiche Schauspiel, wenn er die Schule wechseln musste. Warum, warum konnte er nicht so sein, wie die anderen? Diese Frage stellte er sich bereits sein ganzes Leben lang.
Fabian schlurfte mit schleppenden Schritten in seine neue Klasse. Er wusste genau, in welches Zimmer er musste. Seine Hand lag gerade auf dem Türgriff, als die Tür des Klassenzimmers aufflog. Fabian wäre fast gestürzt, hätte ihn nicht jemand aufgefangen. Er schaute in die strahlenden Augen eines Mädchens. Vor Verlegenheit brachte Fabian kein Wort des Dankes heraus.
In diesem Moment rauschte der Witzbold vom Schulhof mit seiner Gruppe an. „Ach da schau mal an Alter, er hinkt nicht nur, nein, er kann auch nicht sprechen!“
Fabian stand mit rotem Kopf hilflos vor dem Mädchen. Yasmina ergriff seine Partei und konterte: „Nico, er kann nicht richtig laufen, aber bei dir fehlt der Grips im Kopf.“
Die Jungs seiner Gang, wie immer an Nicos Seite, verzogen grinsend die Mundwinkel.
Nico drehte sich wütend um, und die Jungen achteten schnell auf ihren Gesichtsausdruck. Keiner würde es wagen, über ihn zu lachen. Er ließ die Beiden kommentarlos stehen und marschierte in das Klassenzimmer.
Fabian bedankte sich bei dem Mädchen.
„Du bist neu!“, sie hielt ihm ihre Hand entgegen: „Ich bin Yasmina.“
Er ergriff ihre Hand, wie zierlich und zart ihre Finger waren, fiel ihm in diesem Moment unpassenderweise auf, rasch konzentrierte er sich wieder: „Ich bin Fabian.“
In diesem Moment traf der Lehrer ein und schob sie in das Klassenzimmer.
Herr Müller zog Fabian gleich mit sich zur Tafel und rief ein lautes „Ruhe!“ in die Klasse.
„Jetzt ist Ruhe, sonst könnt ihr gleich wieder gehen“, donnerte er und schlug mit seiner Faust auf den Tisch.
Es dauerte eine Weile, bis auch der Letzte schwieg.
„Wie ihr seht, haben wir wieder einen neuen Schüler: Fabian ist mit seiner Familie nach Duisburg gezogen, und es wäre gut, wenn ihr ihn in eurer Mitte aufnehmen würdet.“
Nico lachte und grölte: „Haben wir schon Alter!“
Sofort setzte ein lautstarkes Gejohle ein.
Der Lehrer drehte sich wieder zu Fabian um und schickte
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