Messewalzer
EINS
März in Leipzig! Leipzig liest! 150.000 Besucher strömen in die Stadt, um die Leipziger Buchmesse zu besuchen. Die Taxifahrer sind gut gelaunt, die Hoteliers freuen sich über ausgebuchte Zimmer, die Gastwirte und Restaurantbesitzer genießen die Melodie der klingenden Kassen. Niemand kann sich in diesen Tagen dem Bann des Buches entziehen. Das liegt vor allem daran, dass unter dem Dach der Leipziger Buchmesse das Lesefestival LEIPZIG LIEST veranstaltet wird, 1.500 Lesungen an drei Tagen, verteilt in der ganzen Stadt und an den ungewöhnlichsten Orten: Nicht nur in Restaurants, Kneipen und Buchhandlungen wird gelesen, sondern auch in Läden, Metzgereien, Galerien, auf Schiffen und überhaupt Orten, an denen man sonst nie jemanden mit einem Buch in der Hand antrifft.
Einer der Höhepunkte war für den morgigen Nachmittag angekündigt: Der Leipziger Autor Willi Lachmann präsentiert in der Glashalle des neuen Messegeländes seinen aktuellen Roman ›Im Glashaus‹. Es war das Ereignis für die Besucher: Willi Lachmann war in Leipzig geboren, seiner Stadt immer treu geblieben und mit Sicherheit ihr bekanntester noch lebender Sohn. Alle seine Kriminalromane waren Bestseller von internationalem Rang, wurden in sämtliche Sprachen der Welt übersetzt und eroberten die Bestsellerlisten im Sturm. Die Rekorde nahmen kein Ende: Kein deutscher Autor hatte bislang im In- und Ausland mehr Bücher verkauft als Lachmann. Die Leipziger waren stolz und liebten ihn nicht nur wegen seines Erfolges und seiner Berühmtheit, sondern auch, weil er stets bescheiden und normal geblieben war und einen Großteil seines Vermögens in soziale Zwecke investierte. ›Das Geld, das ich verdiene, kommt von den Menschen und ich möchte es den Menschen zurückgeben‹, war sein Credo. Besonders engagierte er sich für ältere Menschen: Er war Erfinder und Förderer der Stiftung ›Herbstvilla‹, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, alten Menschen, egal, ob arm oder reich, ein schönes Zuhause zu bieten. Er hatte ein großes Areal am Rande der Leipziger Innenstadt erworben und dort mehrere Alten- und Pflegeheime errichtet, die so manches Hotel in den Schatten stellten: Zur Standardausrüstung gehörten unter anderem ein Schwimmbad mit Sauna- und Wellnessbereich, ein Fitnessraum, Ruheräume und Konzertsäle.
Hauptkommissar Kroll saß in der dunkelsten Ecke des McCormacks auf einem Barhocker an einem Bistrotisch. Vor ihm stand ein leeres Whiskeyglas und ein halb leeres Glas Kilkenny. Im Aschenbecher qualmte eine Zigarette. Auf dem Bierdeckel vor ihm hatte die Kellnerin bereits vier Kreuze und vier Striche gemalt. Kroll führte das Glas mit aufgestütztem Ellenbogen zum Mund und trank nachdenklich das dunkle Bier.
Es war noch keine vier Monate her, dass seine Freundin Claudia nach Kiel gezogen war, um dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Meeresbiologie zu arbeiten. Ewige Treue hatten sie sich geschworen. Claudia hatte sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten seit ein paar Tagen nicht mehr gemeldet. Kroll hatte sich daraufhin spontan entschlossen, ihr einen Überraschungsbesuch abzustatten, sich freigenommen und war heute Morgen nach Kiel gefahren. Keine gute Idee, wie sich im Nachhinein herausstellte: Weil Claudia nicht in ihrer Wohnung war, beschloss er, in einem Café in der Nachbarschaft auf sie zu warten. Als er das Café betrat, traute er seinen Augen nicht. Seine Freundin saß mit einem jungen Mann, vermutlich ein Kollege oder Student, eng umschlungen auf einer Eckbank und tauschte Zärtlichkeiten aus. Kroll wusste nicht einmal, ob sie ihn überhaupt bemerkt hatte. Er verließ fluchtartig das Café, setzte sich in sein Auto und fuhr zurück nach Leipzig. Sein Handy hatte er ausgestellt.
Kroll setzte das Glas wieder an. Fucking Kiel, fucking Biologie, fucking Studenten, fucking Weiber.
Die Kellnerin Moni brachte ihm einen weiteren Whiskey und ein frisches Bier. »Willst du dich heute volllaufen lassen?«
Kroll starrte auf den Tisch und zuckte mit den Schultern.
Moni sah ihn besorgt an. »Geht’s dir nicht gut, Kroll?«
Er drehte langsam seinen Kopf in ihre Richtung. Seine Augen waren trüb. »Mir geht’s fucking gut!«
Moni lächelte freudlos und kümmerte sich um die anderen Gäste.
Willi Lachmann hatte sich für den Abend, den Vorabend seiner offiziellen Buchpräsentation, etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er wollte seinen neuen Roman in einer privaten Lesung vorstellen und hatte nur die Personen
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