Blick in Die Angst
1. Kapitel
Als ich Heather Simeon zum ersten Mal sah, lag sie zu einer Kugel zusammengerollt im Kriseninterventionsraum des Krankenhauses. Sie hatte eine dünne blaue Decke eng um sich gewickelt, die weißen Verbände hoben sich überdeutlich von den Handgelenken ab. Blondes Haar bedeckte den Großteil ihres Gesichts. Doch selbst jetzt noch strahlte sie eine gewisse Vornehmheit aus, obwohl die hohen Wangenknochen, die wunderschön geschwungenen Brauen, die Patriziernase und die zarten Konturen der blassen Lippen unter dem Schleier aus Haaren kaum zu erkennen waren. Nur ihre Hände wirkten ungepflegt: Die Nagelhaut war eingerissen und blutig, die Nägel waren schartig. Sie sahen jedoch nicht abgebissen, sondern gebrochen aus. Genau wie Heather selbst.
Ich hatte bereits ihre Krankenakte gelesen und mit dem Psychiater aus der Notaufnahme gesprochen, der sie in der vergangenen Nacht aufgenommen hatte. Dann war ich alles noch einmal mit den Krankenschwestern durchgegangen, von denen die meisten seit Jahren auf der Geschlossenen arbeiteten und die meine besten Informationsquellen waren. Während meiner morgendlichen Visite verbrachte ich eine viertel bis ganze Stunde mit einzelnen Krankenhaus-Patienten, doch die übrige Zeit arbeitete ich beim Mental Health Service, der psychologischen Ambulanz. Aus diesem Grund nahm ich gerne eine Krankenschwester mit, wenn ich einen Patienten zum ersten Mal aufsuchte, damit wir beim Behandlungsplan auf dem gleichen Stand waren. Jetzt war Michelle bei mir, eine fröhliche Frau mit blonden Locken und einem breiten Lächeln.
Heathers Mann war am Abend zuvor nach Hause gekommen und hatte sie ausgestreckt auf dem Küchenfußboden entdeckt, das Messer neben der Hand. Als sie im Krankenhaus eingeliefert wurde, war sie unruhig geworden, hatte geschrien und war auf das Pflegepersonal losgegangen. Der Notarzt testete sie auf Drogen, fand jedoch nichts, also gab er ihr Lorazepan und brachte sie im Kriseninterventionsraum unter. Sie wurde engmaschig überwacht, und alle fünfzehn Minuten sah eine Krankenschwester nach ihr.
Sie hatte die ganze Nacht geschlafen.
Ich klopfte leise an den Türrahmen. Heather bewegte sich, schlug die Augen auf und blinzelte ein paarmal. Ich trat näher an ihr Bett heran. Sie blickte zu mir auf, fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und schluckte. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch dann stieß sie nur einen langen Seufzer aus. Ihre Augen waren dunkelblau.
»Guten Morgen, Heather«, sagte ich so einfühlsam wie möglich. »Ich bin Dr. Lavoie, Ihre behandelnde Psychiaterin.« Als ich noch meine Privatpraxis in Nanaimo hatte, hatten meine Patienten mich Nadine genannt. Doch seit ich in Victoria wohnte und im Krankenhaus arbeitete, hatte ich begonnen, meinen Titel zu benutzen. Die emotionale Distanz gefiel mir – sie war einer der Gründe, warum ich überhaupt umgezogen war. »Möchten Sie etwas Wasser?«
Sie starrte auf einen Punkt irgendwo hinter meiner Schulter. Ihre Miene war ausdruckslos, bar jeder Trauer oder Wut. Wenn auch nicht physisch, so hatte sie es zumindest geschafft, gefühlsmäßig zu verschwinden.
»Ich würde mich gerne ein wenig mit Ihnen unterhalten, wenn das in Ordnung ist.«
Ihr Blick irrte an mir vorbei und fiel auf Michelle. Sie zog die blaue Decke noch enger um sich.
»Warum … ist sie hier?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Michelle? Sie ist eine unserer Krankenschwestern.«
In der psychiatrischen Abteilung kleideten sich die Ärzte im Allgemeinen eher ungezwungen, und das Pflegepersonal achtete mehr auf Bequemlichkeit. Michelle hatte eine Vorliebe für witzige Klamotten, heute trug sie eine flippige gestreifte Bluse zu einem dunklen Jeansrock. Abgesehen von dem Namensschild, das ihr an einem Band um den Hals hing, wäre man nicht unbedingt darauf gekommen, dass sie eine Krankenschwester war.
Heathers Körpersprache drückte Abwehr aus, sie duckte sich beinahe unter der Decke, ihr Blick sprang zwischen uns hin und her wie bei einem in die Ecke getriebenen Tier. Michelle trat einen Schritt zurück, doch Heather wirkte immer noch überfordert. Manche Patienten hatten das Gefühl, einer Übermacht gegenüberzustehen, wenn wir zusammen mit einer Schwester auftauchten.
Ich sagte: »Wäre es Ihnen lieber, mit mir allein zu sprechen?«
Sie nickte kurz, während sie mit den Zähnen an einem Zipfel ihres Verbandes zupfte. Erneut hatte ich das Gefühl, ein wildes Tier vor mir zu haben,
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