Blick in die Ewigkeit: Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen (German Edition)
gab.
Nicht dass ich etwas gegen den Glauben an das Übernatürliche gehabt hätte. Als Arzt, der Tag für Tag unaussprechliches physisches und emotionales Leid zu sehen bekam, war das Letzte, was ich wollte, jemandem den Trost und die Hoffnung zu nehmen, die der Glaube verschafft. Ja, ich hätte gern selbst etwas davon genossen.
Doch je älter ich wurde, desto weniger wahrscheinlich schien dies. Wie das Meer, das den Strand permanent auswäscht, hatte mein wissenschaftliches Weltbild im Laufe der Zeit langsam, aber sicher meine Fähigkeit untergraben, an etwas Größeres zu glauben. Das beständige Bombarde ment an wissenschaftlichen Beweisen erweckte zunehmend den Eindruck, dass unsere Bedeutung im Universum gegen Null ging. Glaube wäre schön gewesen. Aber die Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit dem, was schön wäre. Sie beschäftigt sich mit dem, was ist .
Ich bin jemand, der kinetisch, also durch eigenes Tun, lernt. Wenn ich etwas nicht selbst spüren oder anfassen kann, fällt es mir schwer, ein wirkliches Interesse dafür aufzubringen. Dieser Wunsch, etwas, das ich zu verstehen versuchte, zu greifen und zu berühren, sowie Sehnsucht, wie mein Vater zu sein, brachten mich zur Neurochirurgie. So abstrakt und mysteriös das menschliche Gehirn auch ist, es ist zugleich unglaublich konkret. Als Medizinstudent an der Duke University habe ich es genossen, in ein Mikroskop zu schauen und die länglichen Neuronen, welche jene synaptischen Verbindungen entfachen, die das Bewusstsein hervorrufen, wirklich zu sehen. Ich liebte die Kombination aus abstraktem Wissen und totaler Körperlichkeit, die mir die Gehirnchirurgie bot. Um Zugang zum Gehirn zu bekommen, muss man die Haut- und Gewebsschichten, die den Schädel bedecken, wegziehen und anschließend ein hochtouriges pneumatisches Gerät namens Midas-Rex-Bohrer einsetzen. Das ist ein sehr ausgeklügelter Teil unserer Ausrüstung, der Tausende von Dollar kostet, doch im Grunde genommen, ist es auch nur … ein Bohrer.
Desgleichen ist die chirurgische Reparatur des Gehirns zwar einerseits eine außerordentlich komplexe Unternehmung, aber eigentlich unterscheidet sie sich nicht sonderlich vom Reparieren irgendeiner anderen hochempfind lichen, unter Strom stehenden Maschine. Wenn ich eins ganz genau wusste, dann, was das Gehirn wirklich ist: eine Maschine, die das Phänomen Bewusstsein erzeugt. Sicher, die Wissenschaftler hatten noch nicht herausgefunden, wie die Neuronen im Gehirn das ganz genau bewerkstelligten, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es herausfinden würden. Beweise dafür gab es jeden Tag im Operationssaal. Eine Patientin wird mit Kopfschmerzen und Bewusstseinstrübungen eingeliefert. Man macht ein MRT (Magnetresonanztomografie) von ihrem Gehirn und entdeckt einen Tumor. Die Patientin bekommt eine Vollnarkose, der Tu mor wird entfernt, und ein paar Stunden später wacht sie auf und ist wieder ganz in dieser Welt. Keine Kopfschmerzen mehr. Kein Problem mehr mit dem Bewusstsein. Offenbar ziemlich einfach.
Ich liebte diese Einfachheit über alles – die absolute Ehrlichkeit und Sauberkeit der Wissenschaft. Ich respektierte, dass sie keinen Raum für Fantasie oder nachlässiges Denken ließ. Wenn sich eine Tatsache als greifbar und vertrauenswürdig erwies, wurde sie akzeptiert. Wenn nicht, wurde sie abgelehnt.
Dieser Ansatz ließ sehr wenig Raum für die Seele und den Geist sowie für das Weiterexistieren einer Persönlich keit, nachdem das Gehirn, das diese unterstützte, seine Arbeit eingestellt hatte. Und noch weniger Raum ließ er für das, wovon ich in der Kirche immer und immer wieder gehört hatte: für das »ewige Leben«.
Deswegen baute ich so sehr auf meine Familie – aufHol ley und unsere Jungs, auf meine drei Schwestern und natürlich auf meine Mutter und meinen Vater. Ohne ihre fundamentale Unterstützung, ohne die Liebe und das Verständnis, die sie mir entgegenbrachten, wäre ich mit Sicherheit nicht in der Lage gewesen, meinen Beruf auszuüben und das zu tun, was ich tagein, tagaus tun musste, sowie die Dinge zu sehen, die ich Tag für Tag zu sehen bekam. Und deswegen hatte Phyllis (nachdem sie mit unserer Schwester Betsy telefoniert hatte) in jener Nacht beschlossen, mir im Namen unserer ganzen Familie etwas zu versprechen. Als sie dort saß und meine schlaffe, beinahe leblose Hand in ihren Händen hielt, versicherte sie mir, dass, was immer von nun an auch mit mir passieren werde, immer jemand genau hier sein und meine
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