Blind vor Wut
miteinander auskommen. Ich meine, ich werde gewiss alles tun, was ich kann …«
»Was ist das da?« Ich öffnete das Päckchen, das sie mitgebracht hatte. »Sie haben mir ein Buch mitgebracht?«
Ja, sagte sie fröhlich, habe sie. »Es heißt Black Beauty , und es ist ganz toll. Soll ich dir etwas daraus vorlesen?«
Ich lehnte dankend ab. »Haben Sie es selbst geschrieben?«
»Ähm, nein. Nein, habe ich nicht.«
»Nun, trotzdem sehr freundlich, es mir zu schenken«, sagte ich. »Aber dafür müssen Sie auch eins von mir an nehmen.«
Ich hätte mich eigentlich dafür schämen sollen, nehme ich an (und das hätte ich vielleicht auch getan, wenn ich zu solchen Gefühlen neigen würde). Papa hatte ihr offenbar nichts über mich erzählt. Papa würde niemals riskieren, ein so leckeres Früchtchen wie sie zu verscheuchen, indem er von mir erzählte. Ich wählte einen Band aus den Bücherregalen, kam zurück und reichte ihn ihr.
»Bitte sehr«, erklärte ich. »Es handelt sich um die Übersetzung von Catulls Gedichten ins Sanskrit.«
»Aber …« Ihre wunderschönen braunen Augen blinzelten verwirrt. »Aber, ähm …«
»Ein Privatdruck«, fuhr ich fort. »Die Übersetzung habe ich selbst besorgt. Soll ich Ihnen daraus vorlesen?«
Sie bewegte ruckartig den Kopf, eine Art unbestimmter Ja-Nein-Bewegung. Sie schien verwirrt, so als habe ihr jemand einen Knüppel über den hübschen honigblonden Kopf gezogen. Dann schaffte sie es irgendwie zu fragen. Ich antwortete ernsthaft und erklärte, dass es am Ashley-Institut für Hochbegabte keine Noten gäbe, da Dr. Ashley diese für entsetzlich vorsintflutlich halte.
»Aber machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte ich. »Alle am Institut sind mit meinen Fortschritten sehr zufrieden.«
»Aber … aber …«
»Nein, nein, keine Sorge«, beharrte ich. »Wirklich nicht nötig. Als ich ans Institut kam, lag mein IQ nur bei 160 – knapp über dem Minimum für die Aufnahme –, doch in den letzten vier Jahren ist er stetig gestiegen.«
Sie erwiderte nichts darauf, sondern starrte mich nur mit großen Augen an. Ich fuhr fort und erwähnte, ich sei wohl der Klügste in meiner Altersstufe, mit Ausnahme eines Jungen namens Itzop Kozalski.
»Ein Mathe-Genie. Er arbeitet an einer Formel, die beweisen wird, dass der Raum lediglich eine Projektion der Körper ist, auf die er wirkt. Wenn er dranbleibt«, meinte ich lachend. »Itzop hat eine Schwäche für Philosophie, für die Mittel zum Ende, nicht für das Ende selbst. Im Augenblick steckt er tief im Thomismus.«
Sie schüttelte den Kopf wie jemand, der einen Traum abschütteln will. Sie murmelte, sie müsse dann mal wie der gehen. Und wollte aufstehen.
Ich streckte die Arme aus. »Einen Gutenachtkuss, hm?«
Sie zögerte und beugte sich dann vor, um mir einen Kuss zu geben. Ein paar Minuten später schaffte sie es, sich loszureißen. Mit hochrotem Kopf knöpfte sie sich eilig die Bluse zu.
»Also, du …! Allein diese Vorstellung! Warum hast du das getan?«
»Was getan?«, fragte ich zurück.
»Du weißt ganz genau, was! Das werde ich deinem Vater sagen!«
Das könne sie ruhig, wenn sie wolle, meinte ich zu ihr, aber ich würde darin keinen Sinn sehen. »Papa interessiert das überhaupt nicht, da bin ich sicher. Ich habe ihn schon mit Dutzenden Frauen dasselbe machen sehen.«
Sie drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.
Ein paar Minuten später tauchte Papa auf.
Da Papa wohl der unscheinbarste kleine Mistkerl war, der je gelebt hat, und da es für unscheinbare Menschen eugenisch notwendig ist, sich von ihrem körperlichen Gegenteil angezogen zu fühlen – sonst würde die Gattung Mensch ja in inkompatible Extreme zerfallen –, hatte Papas Verlangen nach Schönheit ungeheure Ausmaße angenommen und wuchs noch umgekehrt proportional zu dem völligen Fehlen von Schönheit bei ihm selbst.
Mama war wunderschön, wirklich wunderschön, aber das reichte ihm nicht. Vor allem reichte es nicht, dass seine unablässige Jagd nach anderen Frauen ihren Verstand und unausweichlich auch ihr Aussehen in Mitleidenschaft zog. Ihr offensichtliches Bedürfnis nach Bestätigung trieb ihn nur noch weiter fort. Je kränker sie wurde, desto ungestümer wurde seine Suche nach der ultimativen Frau.
So war Mama, Gott schütze sie. So war Papa, Gott strafe ihn. So die braunäugige, honigblonde Carol, die wohl seinen sicheren Tod bedeutete, wenn man ihre Jugend und Schönheit und sein Alter und seine Geilheit betrachtete.
An jenem Abend
Weitere Kostenlose Bücher