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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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einziges Wort.
    »Nein«, sagte Jude.
    Craddock zog höhnisch die Oberlippe zurück. Seine Hand lag immer noch auf Judes Vater – sie hatte sichvon Martins Brust weiterbewegt und lag jetzt auf dessen Hals. Der Wind zerrte am Haus, Regentropfen trommelten gegen die Fensterscheiben. Plötzlich verstummte der Sturm kurz, und in der Stille war Martin Cowzynskis Wimmern zu hören.
    Über der Konzentration auf die hallenden Schleifen seines imaginären Songs hatte Jude seinen Vater vergessen. Jetzt schaute er wieder zu ihm hinüber. Martin starrte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen den neben seinem Bett stehenden Craddock an. Craddock wandte ihm den Kopf zu, das höhnische Grinsen verschwand, und stattdessen breitete sich auf seinem hageren, zerfurchten Gesicht eine stille Nachdenklichkeit aus.
    Schließlich sagte Judes Vater mit tonlos keuchender Stimme: »Das ist ein Bote. Ein Bote des Todes.«
    Der tote Mann schaute jetzt wieder zu Jude. Die schwarzen Flecken vor seinen Augen schienen zu brodeln. Seine Lippen bewegten sich, und für einen Augenblick setzte sich seine bebende Stimme gegen den heimlichen Song in Judes Kopf durch – gedämpft, aber hörbar.
    Du kannst mich vielleicht ausblenden, sagte Craddock. Aber er kann's nicht.
    Craddock beugte sich über Judes Vater und legte ihm beide Hände aufs Gesicht, auf jede Wange eine. Martin begann ruckartig zu atmen, jeder Atemzug kurz, schnell, panisch. Seine Augenlider flatterten. Der tote Mann beugte sich noch weiter nach vorn und verschloss mit seinen Lippen Martins Mund.
    Judes Vater presste den Kopf ins Kissen, stieß und scharrte mit den Fersen, als könnte er sich dadurch tiefer in die Matratze hineindrücken, weg von Craddock. Er tat einen letzten, verzweifelten Atemzug – und sog den toten Mann in sich hinein. Es dauerte nur einen Augenblick, als ob man einen Zauberer beobachtete, derein Halstuch verschwinden ließ, indem er es durch die geschlossene Faust zog. Craddock knüllte sich zusammen und wurde aufgesaugt wie ein riesiger Fetzen Klarsichtfolie in ein Staubsaugerrohr. Die glänzenden schwarzen Slipper waren das Letzte, was in Martins Rachen verschwand. Sein Hals blähte sich kurz auf, schwoll an wie der einer Schlange, die gerade eine Rennmaus verschlang, doch dann hatte er Craddock hinuntergeschluckt, und der Hals war wieder so dürr und schlaff wie zuvor.
    Judes Vater würgte, hustete, würgte noch einmal. Die Hüften hoben sich von der Matratze, der Rücken bog sich durch. Unwillkürlich musste Jude an einen Orgasmus denken. Martins Augen quollen aus den Höhlen, die Zunge flatterte zwischen den Zähnen.
    »Spuck, Dad«, sagte Jude. »Spuck ihn aus.«
    Sein Vater schien ihn nicht zu hören. Er sank zusammen und bäumte sich dann noch einmal auf, als säße jemand auf seiner Brust, den er unbedingt abwerfen wollte. Aus seinem Rachen drangen feuchte, erstickte Geräusche. Mitten auf seiner Stirn trat eine blaue Ader hervor. Seine Lippen waren nach hinten gezogen, er fletschte die Zähne, wie ein Hund.
    Dann sank sein Körper sanft auf die Matratze. Die in das Bettlaken verkrallten Hände öffneten sich langsam. Die Augen leuchteten in einem scheußlich knalligen Rot – die Blutgefäße waren geplatzt und hatten das Weiße rot besprenkelt. Die Augen starrten ausdruckslos zur Decke. Die Zähne waren blutfleckig.
    Jude wartete auf eine Bewegung, lauschte angestrengt auf ein Atemgeräusch. Er hörte, wie der Wind am Haus rüttelte, hörte den Regen gegen die Wände prasseln.
    Unter großer Kraftanstrengung setzte Jude sich auf, drehte sich im Sitzen zur Seite und stellte die Füße auf den Boden. Er war sich sicher, dass sein Vater tot war.Der Mann, der ihm die Hand in der Kellertür zerquetscht und seiner Mutter die einläufige Schrotflinte auf die Brust gesetzt hatte, der im Haus mit Schlagring, Gürtelriemen und lachenden Wutanfällen geherrscht hatte und den Jude in seinen Tagträumen so oft umgebracht hatte. Trotzdem hatte es ihn mitgenommen, seinen Vater sterben zu sehen. Der Bauch tat ihm weh, als hätte er sich gerade übergeben, als hätte man ihm unter Zwang etwas aus seinem Körper herausgepresst, etwas, was er nicht hatte hergeben wollen. Seine Wut vielleicht.
    »Dad?«, sagte Jude und wusste doch, dass ihm niemand antworten würde.
    Jude stellte sich auf die Beine, schwankend, benommen. Schlurfend wie ein alter Mann, machte er einen Schritt nach vorn und musste sich dabei mit der bandagierten Hand auf dem Nachttisch abstützen. Er

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