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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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fuhr auf dem Laken an dessen Bein hinauf. Martins Augen waren geschlossen, aber er atmete. Als flache pneumatische Pfeifgeräusche drangen die Atemstöße aus seinem offen stehenden Mund. Nach tausend Meilen singst du immer noch das gleiche Lied.
    Craddocks Hand strich über Martins Brust. Er schien das fast geistesabwesend zu tun, nicht ein einziges Mal blickte er auf den alten Mann hinab, der um seine letzten Atemzüge kämpfte.
    Deine Musik hat mir nie gefallen. Anna hatte sie immer so laut aufgedreht, dass einem normalen Menschen dabei das Blut aus den Ohren geschossen wäre. Weißt du eigentlich, dass es zwischen dem Hier und der Hölle eine Strafte gibt? Ich bin selbst darauf gefahren. Sehr oft inzwischen. Und ich sag dir was: Da draußen auf dieser Straße, da gibt's nur einen Sender, und der spielt nichts anderes als deine Musik. Schätze, das ist die Masche vom Teufel: Die Sünder sollen die Strafe gleich spüren, bloß keine Zeit verlieren. Er lachte.
    »Lass das Mädchen laufen.«
    O nein. Bei unserm Trip auf der Strafte der Nacht wird sie genau zwischen uns beiden sitzen. Sie hat dir jetzt so lange die Stange gehalten, da können wir sie doch nicht einfach so sitzen lassen.
    »Ich sag dir, Marybeth hat nicht das Geringste mit der ganzen Sache zu tun.«
    Aber du hast mir nichts zu sagen, Sohnemann. Ich sage dir was. Du wirst sie zu Tode würgen, und ich werde dabei zuschauen. Los, sag's mir. Was wird passieren?
    Jude dachte: Nichts werde ich sagen, doch noch während er es dachte, sagte er: »Ich werde sie erwürgen, und du wirst zuschauen.«
    Na also, das ist meine Musik, so mag ich das.
    Jude dachte an den Song, den er neulich geschrieben hatte, in dem Motel in Virginia, dachte daran, wie seine Finger die richtigen Akkorde gefunden hatten, wie ihn, während er sie gespielt hatte, ein Gefühl von Stille und Ruhe erfüllt hatte, ein Gefühl von Ordnung und Kontrolle, von Abgeschiedenheit vom Rest der Welt, gegen die ihn seine unsichtbare Mauer aus Tönen abgeschirmt hatte. Was hatte Bammy zu ihm gesagt? Die Toten gewinnen, wenn ihr aufhört zu singen. Und in seinem Traum hatte Jessica Price gesagt, dass Anna in Trance gesungen hätte, wenn man sie zu etwas zwingen wollte, wenn sie Stimmen ausblenden wollte, die sie nicht hören wollte.
    Steh auf, sagte der tote Mann. Schluss mit der Faulenzerei. Nebenan gibt's Arbeit. Das Mädchen wartet.
    Aber Jude hörte ihm gar nicht zu. Er konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Musik in seinem Kopf, hörte sie so, wie sie sich anhören würde, wenn er sie zusammen mit einer Band aufgenommen hätte, hörte das sanfte Klirren des Beckens, das weiche Schnarren der Snare-Drum, das tiefe, langsame Pulsieren des Basses. Der alte Mann redete auf ihn ein, aber Jude merkte, dass er ihn fast vollständig ausblenden konnte, wenn er sich ganz auf seinen neuen Song konzentrierte.
    Er dachte an das Radio in seinem Mustang, das alte Radio, das er ausgebaut und durch ein XM-Satellitenradio und einen DVD-Audio-Player ersetzt hatte. Das Originalradio war ein Mittelwellenempfänger gewesen, dessen Glasfront in einem überirdischen grünen Farbton strahlte und das Cockpit des Wagens ausleuchtete wie ein Aquarium. In seiner Fantasie konnte Jude seinen Song im Radio hören, konnte seine Stimme hören, die den Text herausschrie und den fiebrigen Echokammer-Sound der Gitarre übertönte. Das lief bei dem einen Sender. Die Stimme des alten Mannes, darunter begraben, lief bei einem anderen Sender, einem weit entfernten Südstaaten-Wortradio-Sender, der rund um die Uhr das Heil durch Jesus Christus verkündete, und zwar mit einem so schlechten Empfang, dass immer nur ein oder zwei Worte auf einmal durchkamen und der Rest in atmosphärischen Störungen versank.
    Craddock hatte ihm befohlen aufzustehen. Jude brauchte eine Sekunde, bis ihm bewusst wurde, dass er noch nicht gehorcht hatte.
    Aufstehen, hab ich gesagt.
    Jude bewegte sich, hielt aber gleich wieder inne. In seiner Fantasie war der Fahrersitz zurückgekippt, seine Füße hingen aus dem Fenster, die Grillen zirpten in der warmen Sommernacht, und was er da im Radio hörte, war sein Song. Im nächsten Augenblick bemerkte er, dass er vor sich hin summte. Das Summen war leise, nicht ganz im Takt, aber dennoch unverkennbar der neue Song.
    Was ist, Sohnemann, hörst du mich nicht?, fragte der tote Mann. Jude verstand ihn genau, er las ihm von den Lippen, die seine Worte sehr deutlich formulierten. Aber hören konnte Jude natürlich kein

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