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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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ihm wieder mit dem harten, grellen Licht der Lampe in die Augen und beugte sich vor, um einen Blick auf die Stichwunde in seiner Wange zu werfen. Sie suchte ein breites fleischfarbenes Mullpflaster heraus und bedeckte damit vorsichtig die eine Gesichtshälfte.
    »Du hast ein ganz schönes Leck, mein Junge«, sagte sie. »Weißt du, welche Sorte Öl dein Motor braucht? Dann kann ich Bescheid sagen, dass der Krankenwagen den passenden Saft mitbringt.«
    »Schau dir noch Marybeth an. Bitte.«
    »Wollte ich gerade machen.«
    Bevor sie das Zimmer verließ, schaltete sie das Licht aus. Es war eine Wohltat, wieder in Dunkelheit zu versinken.
    Er schloss die Augen, und als er sie wieder aufriss, wusste er nicht, ob eine Minute oder eine Stunde vergangen war. Das Haus seines Vaters war ein Ort erholsamer Ruhe und Stille. Plötzlich aufheulender Wind, ein knarzender Balken, ein gegen die Scheiben prasselnder Regenguss – das waren die einzigen Geräusche. Er fragte sich, ob Arlene schon gefahren war, um den Krankenwagen zu rufen. Er fragte sich, ob Marybeth schlief. Er fragte sich, ob Craddock im Haus war und schon vor der Zimmertür saß. Er wandte den Kopf zur Seite und sah, dass sein Vater ihn anschaute.
    Er lag mit offenem Mund da. Die wenigen Zähne, dieer noch hatte, waren nikotinfleckig, das Zahnfleisch war entzündet. Martin starrte ihn aus blassen grauen Augen verwirrt an. Gut ein Meter nackter Boden trennte die beiden Männer.
    »Du bist nicht hier«, sagte Martin Cowzynski mit keuchend pfeifender Stimme.
    »Hab gedacht, du kannst nicht reden«, sagte Jude.
    Sein Vater blinzelte langsam. Er gab kein Zeichen, dass er etwas verstanden hatte. »Wenn ich aufwache, bist du weg.« Seine Stimme klang fast flehentlich. Er fing an, schwächlich zu husten. Speicheltropfen flogen, seine Brust schien einzufallen, in sich zusammenzusinken, als ob mit jedem schmerzhaft trockenen Hustenstoß, der sich durch seine Innereien nach oben quälte, ein bisschen mehr Luft aus ihm entwich.
    »Falsch, alter Mann«, sagte Jude. »Du bist mein Albtraum, nicht andersrum.«
    Martin schaute ihn noch ein paar Sekunden mit einem Ausdruck dümmlicher Verwunderung an, wandte dann den Kopf und schaute wieder zur Decke. Jude behielt ihn argwöhnisch im Auge, den alten Mann auf seinem Feldbett, dem der streifige Rasierschaum auf der Haut festgetrocknet war, dessen Atem sich schrill röchelnd aus dem Hals presste.
    Langsam schlössen sich die Augen seines Vaters. Kurz darauf taten Judes Augen das Gleiche.
    43
    Er war sich nicht sicher, was ihn geweckt hatte, aber als er die Augen öffnete, sah er, dass Arlene am Fuß seines Bettes stand. Er wusste nicht, wie lange sie schon dastand. Sie trug eine glänzende rote Regenjacke und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Winzige Regentropfen glitzerten auf der Plastikhaut. Jude brauchte eine Weile, bis er erkannte, dass sich hinter dem leeren, fast roboterhaften Ausdruck auf ihrem hageren alten Gesicht Angst verbarg. Er fragte sich, ob sie schon wieder da oder noch gar nicht gefahren war.
    »Der Strom ist weg«, sagte sie.
    »Ach ja?«
    »Ich war kurz draußen, und als ich wieder reingekommen bin, war der Strom weg.«
    »Mhm.«
    »Draußen in der Einfahrt steht ein Pick-up. Steht einfach da. Schwer zu sagen, welche Farbe, irgendwie farblos. Ich weiß nicht, wer drin sitzt. Ich wollte nachschauen, vielleicht jemand, der wo hinfahren und einen Krankenwagen rufen kann. Aber ich hab's dann doch mit der Angst bekommen und bin wieder ins Haus.«
    »Bleib ihm am besten vom Leib.«
    Sie redete weiter, als ob Jude nichts gesagt hätte. »Und als ich wieder drin war, hatten wir keinen Strom mehr. Und aus dem Telefon kommt immer noch so verrücktes Radiogequassel. So religiöses Zeug, dass wer auf der Straße des Ruhmes unterwegs ist. Und vorn im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Ich weiß, das ist unmöglich, weil wir ja keinen Strom haben, aber er läufttrotzdem. Da kam so eine Geschichte in den Nachrichten. Über dich. Über uns alle. Dass wir alle tot sind. Die haben Bilder vom Haus hier gezeigt. Ich hab gesehen, wie sie meine Leiche mit einem Laken zugedeckt haben. Sie haben nicht gesagt, dass ich das war, aber meine Hand hat unter dem Laken rausgeschaut, ich hab mein Armband erkannt. Und überall sind Polizisten rumgestanden. Die Einfahrt war mit gelben Bändern abgesperrt. Und dann hat Dennis Weltering gesagt, der Nachrichtensprecher, dass du uns alle umgebracht hast.«
    »Alles Lügen. Nichts davon wird

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