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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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fühlte sich, als würden seine Beine jeden Moment unter ihm nachgeben.
    »Dad?«, sagte er wieder.
    Sein Vater riss den Kopf herum und schaute Jude an, fixierte ihn mit roten, grässlichen, gebannten Augen.
    »Justin«, flüsterte er mühsam und lächelte – ein entsetzlicher Anblick auf diesem ausgemergelten, gepeinigten Gesicht. »Mein Junge. Mir geht's gut. Alles in Ordnung. Komm her. Los, leg deine Arme um mich.«
    Jude ging nicht auf ihn zu, sondern machte einen stolpernden, unsicheren Schritt rückwärts. Kurz blieb ihm die Luft weg.
    Dann kam er wieder zu Atem und sagte: »Du bist nicht mein Vater.«
    Martins Lippen zogen sich auseinander und entblößten sein verrottetes Zahnfleisch und die Reste seiner schiefen, gelbfleckigen Zähne. Eine Träne aus Blut quoll aus seinem linken Auge und lief in einer gezackten roten Linie über seinen spitzen Backenknochen. In seinemTraum von Annas letzter Nacht, glaubte Jude sich zu erinnern, hatte fast auf die gleiche Weise auch Craddock rote Tränen geweint.
    Judes Vater setzte sich auf, griff hinter die Seifenschale und holte sein altes Rasiermesser hervor, das mit dem Griff aus Hickory-Holz. Jude hatte es hinter der weißen Porzellanschale nicht gesehen. Er machte noch einen Schritt nach hinten, stieß mit den Waden gegen die Bettkante und setzte sich auf die Matratze.
    Sein Vater stieg aus dem Bett. Die Decke rutschte an ihm herunter. Er bewegte sich schneller, als Jude ihm zugetraut hätte, wie eine Eidechse, die, in der einen Sekunde noch wie erstarrt, in der nächsten so schnell vorstieß, dass das menschliche Auge ihr kaum folgen konnte. Bis auf die verdreckten weißen Boxershorts war er nackt. Seine Brüste waren zwei kleine schlaffe Fettbeutel mit einem Pelz aus gelockten schneeweißen Haaren. Er ging zu der herzförmigen Schachtel und trat sie mit einem einzigen Tritt seiner Ferse platt.
    »Komm her, Sohnemann«, sagte sein Vater mit Craddocks Stimme. »Daddy zeigt dir jetzt mal, wie man sich rasiert.«
    Dann schnippte er mit einer kurzen Handbewegung das Rasiermesser aus dem Griff – ein Spiegel, in dem Jude ganz kurz sein eigenes erstauntes Gesicht sehen konnte.
    Mit dem Rasiermesser in der Hand stürzte sich Martin auf ihn, aber Jude trat ihm reflexartig gegen das Schienbein und warf sich gleichzeitig mit einer Flinkheit, die er sich gar nicht mehr zugetraut hätte, auf die Seite. Martin fiel nach vorn aufs Bett, und Jude spürte, wie das Rasiermesser sein Hemd aufschlitzte und scheinbar ohne jeden Widerstand durch seinen Bizeps glitt. Jude wälzte sich über die verrostete Stange am Fußende des Bettes und ließ sich auf den Boden fallen.
    Bis auf ihr scharfes Stöhnen und den Wind, der unterdem Dachgesims heulte, war es fast still im Raum. Sein Vater krabbelte zum Fußende des Bettes und sprang über die Stange – ziemlich flott für einen Mann, der mehrere Schlaganfälle erlitten und seit drei Monaten das Bett nicht mehr verlassen hatte. Aber da kroch Jude schon rückwärts durch die Tür in den Flur.
    Er schaffte es durch den halben Flur, bis zum Schweinestall, zur Gittertür. Dahinter kämpften die Schweine um den besten Blick auf das Geschehen. Ihr aufgeregtes Gequieke lenkte Jude für einen Augenblick ab, und als er sich wieder umdrehte, stand Martin über ihm.
    Er stürzte sich auf Jude und holte aus, um ihm das Rasiermesser durchs Gesicht zu ziehen. Ohne nachzudenken, riss Jude die rechte, bandagierte Hand hoch. Die Faust traf das Kinn seines Vaters mit solcher Wucht, dass der Kopf zurückgeschleudert wurde. Jude schrie. Ein weiß glühender, explosiver Schmerz schoss ihm durch die zerstörte Hand und brannte sich weiter durch den Unterarm. Es war, als fräße sich ein Stromstoß mit einer alles vernichtenden Intensität durch den Knochen.
    Judes Vater prallte gegen die Gittertür, worauf der untere Teil des Drahtgeflechts knirschend nachgab, die Federn mit einem blechern zitternden Geräusch abrissen und Martin zwischen die auseinanderstürzenden Schweine in den Stall fiel. Da sich vor der Tür keine Stufen befanden, schlug Martin mit einem dumpfen Geräusch gut einen halben Meter tiefer auf dem Boden auf und war nicht mehr zu sehen.
    Die Welt taumelte, verdunkelte sich, verschwand fast. Nein, dachte Jude, nein, nein, nein. Er kämpfte sich ins Bewusstsein zurück wie ein Mann unter Wasser, der mit letzter Luft der Oberfläche entgegenstrampelte.
    Die Welt wurde wieder heller. Ein Lichtpunkt tauchte vor seinen Augen auf, wurde größer, breitete

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