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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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zweispurigen Straße dahin. Dann sieht er rechts eine
    Abzweigung, zeigt darauf, und Marybeth biegt ohne ein Wort ab. Die Straße ist mehr ein Feldweg, zu beiden Seiten dicht gesäumt mit Bäumen, deren Wipfel sich über den Weg neigen und einen Tunnel aus sattgrünem Licht bilden. Schatten und flatternde Lichtstreifen hüpfen über Marybeths sauberes, feingliedriges Gesicht. Sie wirkt heiter, scheint sich am Steuer des großen aufgemotzten Wagens wohlzufühlen, scheint sich zu freuen auf einen Nachmittag, an dem sie nichts Besonderes vorhat, außer irgendwo anzuhalten und zusammen mit Jude Musik zu hören. Wann hat sie sich in Marybeth verwandelt?
    Als ob er die Frage laut ausgesprochen hätte, wendet sie ihm den Kopf zu und grinst ihn verlegen an. »Ich hab dich gewarnt, oder? Zwei Mädchen für den Preis von einem.«
    »Du hast mich gewarnt, stimmt.«
    »Ich weiß, was das für eine Straße ist«, sagt Marybeth ohne den geringsten Anflug des Südstaatenakzents, der ihre Stimme in den letzten paar Tagen verpfuscht hat.
    »Klar, ich hab's dir ja gesagt. Die nach Chinchuba Landing.«
    Sie warf ihm einen wissenden, amüsierten und leicht mitleidigen Blick zu. Dann, als hätte Jude gar nichts gesagt, fährt Marybeth fort. »Nach allem, was ich von dieser Straße gehört habe, hatte ich mit Schlimmerem gerechnet. Dabei ist sie gar nicht so übel, eigentlich sogar ziemlich schön. Straße der Nacht – bei dem Namen denkt man, dass doch zumindest Nacht sein müsste. Aber vielleicht ist hier bloß für manche Menschen Nacht.«
    Jude verzieht das Gesicht – wieder ein stechender Schmerz in seinem Kopf. Er will glauben, dass sie durcheinander ist, dass sie falsch liegt mit dem, wo sie sind. Sie könnte durchaus falsch liegen. Nicht nur, dass keine Nacht ist, den Weg man kann auch kaum als Straße bezeichnen.
    Eine Minute später rumpeln sie nur noch durch zwei Furchen im Dreck, schmale Rinnen, dazwischen ein breiter Streifen Gras mit Wildblumen, die gegen die Stoßstange klatschen und unter dem Wagenboden entlangschrappen. Sie kommen an einem Autowrack mit verblichener Lackierung vorbei, das mit offener Haube, aus der das Unkraut wuchert, unter einer Weide steht. Jude nimmt es kaum wahr.
    Als sie um die nächste Kurve biegen, lichten sich die Palmen und das dichte Gestrüpp. Marybeth fährt langsamer, so langsam, dass sie sich kaum noch vorwärtsbewegen. Für ein paar Sekunden tauchen sie noch einmal in den kühlen Schatten der über den Weg ragenden Bäume ein. Kies knirscht unter den Reifen, ein angenehmes Geräusch, das Jude immer geliebt hat, das jeder Mensch liebt. Jenseits der grasbewachsenen Lichtung erstreckt sich die schlammig braune Fläche des Lake Pontchartrain. Das Wasser kräuselt sich im Wind, die Kämme der Wellen glitzern wie polierter, frisch geprägter Stahl. Der Himmel verblüfft Jude. Sein bleiches, eintöniges Weiß blendet ihn. Der Himmel ist so lichtdurchflutet, dass man ihn unmöglich anschauen kann, dass man nicht einmal sehen kann, wo die Sonne ist. Jude wendet den Kopf zur Seite, blinzelt und hebt schützend die Hand über die Augen. Der Schmerz in seiner linken Schläfe wird stärker, der Puls hämmert.
    »Verdammt«, sagt er. »Dieser Himmel.«
    »Ist das nicht fantastisch?«, sagt Anna aus dem Innern von Marybeths Körper. »Wie weit man sehen kann. Bis in die Ewigkeit.«
    »Einen Scheißdreck seh ich.«
    »Du musst deine Augen vor diesem Anblick schützen«, sagt Anna, obwohl immer noch Marybeth am Steuer sitzt, obwohl es immer noch Marybeths Lippen sind, die sich bewegen. »Du kannst da nicht hinausschauen. Noch nicht. Es ist nicht einfach für uns, in deine Weltzurückzublicken, was dann auch immer dort zu sehen ist. Dir ist vielleicht schon aufgefallen, dass wir schwarze Linien vor den Augen haben. Stell dir einfach vor, dass das die Sonnenbrillen der lebenden Toten sind.« Bei diesem Satz muss sie lachen. Es ist das heisere, rohe Lachen von Marybeth.
    Am äußersten Rand der Lichtung hält sie an und schiebt den Hebel der Automatik auf P. Die Fenster sind heruntergekurbelt. Die rauschende Luft riecht südlich, nach dem von der Sonne ausgedörrten Gebüsch und dem struppigen Gras. Und darunter riecht Jude das feine Aroma des Lake Pontchartrain, einen kühlen, morastigen Duft.
    Marybeth legt den Kopf auf seine Schulter, umfasst mit einem Arm seine Hüfte, und als sie jetzt spricht, spricht sie mit ihrer eigenen Stimme. »Ich wollte, ich könnte mir dir zurückfahren, Jude.«
    Ein

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