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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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plötzlicher eisiger Schauer durchläuft ihn. »Was soll das heißen?«
    Sie schaut ihm zärtlich ins Gesicht. »He, wir haben's fast geschafft, Jude. Oder etwa nicht?«
    »Hör auf damit«, sagt Jude. »Du gehst nirgendwohin. Du bleibst bei mir.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Marybeth. »Ich bin müde. Der Weg zurück ist ziemlich lang, und ich glaube nicht, dass ich das noch schaffe. Ich könnte schwören, dass der Wagen statt Benzin einen Teil von mir benutzt, und ich bin inzwischen ziemlich leer.«
    »Hör auf, so zu reden.«
    »Wollten wir nicht Musik hören?«
    Jude öffnet das Handschuhfach und sucht nach einer Kassette. Es sind alles Demo-Bänder. Eine Privatsammlung mit seinen neuen Songs. Er will, dass Marybeth sie hört. Er will ihr zeigen, dass ersieh nicht aufgegeben hat. Das erste Stück fängt an. Es ist »Drink to the Dead«. Die Akustikgitarre erklingt und schwingt sich zu einer Country-Hymneauf, zu einem süßen, einsamen Gospelsong, einem Lied zum Trauern. Verflucht, sein Kopf schmerzt, jetzt beide Schläfen, ein gleichmäßiges Pochen hinter den Augen. Verflucht sei dieser Himmel mit seinem erdrückenden Licht.
    Marybeth setzt sich auf, nur dass es nicht mehr Marybeth ist, es ist Anna. Ihre Augen sind voller Licht, voller Himmel. »Die ganze Welt ist Musik. Wir sind alle die Saiten einer Leier. Wir schwingen. Wir singen zusammen. Das war schön. Mit dem Wind im Gesicht. Wenn du singst, sing ich mit dir, mein Liebling. Das weißt du, oder?«
    »Hör auf«, sagt er. Anna umfasst mit einer Hand das Lenkrad und schiebt mit der anderen den Hebel auf D. »Was machst du?«
    Marybeth beugt sich vom Rücksitz nach vorn und greift nach seiner Hand. Marybeth und Anna sind jetzt getrennt – vielleicht zum ersten Mal seit Tagen sind sie wieder zwei verschiedene Individuen. »Ich muss jetzt los, Jude.« Sie beugt sich weiter nach vorn und drückt ihm die Lippen auf den Mund. Die Lippen sind kalt, sie zittern. »Du musst jetzt hier aussteigen.«
    »Wir«, sagt er. Und als sie versucht, ihre Hand wegzuziehen, lässt er sie nicht los, drückt sie fester, bis er spürt, wie sich unter der Haut ihre Knochen biegen. Er küsst sie wieder und sagt in ihren Mund: »Wir steigen hier zusammen aus. Wir. Wir.«
    Wieder Kies unter den Reifen. Der Mustang rollt vorwärts, hinaus unter den offenen Himmel. Die beiden Vordersitze sind in weiß glühendes Licht getaucht, ein Licht, das die Welt außerhalb des Wagens auslöscht, das nur den Innenraum ausspart, und selbst den kann Jude durch die Schlitze seiner Augen kaum sehen. Der Schmerz, der hinter seinen Augäpfeln lodert, ist überwältigend, ist wundervoll. Er hält immer noch Marybeths Hand. Sie kann nicht weg, wenn er sie nicht loslässt. MeinGott, dieses Licht, dieses erdrückende Licht. Irgendetwas stimmt mit dem Kassettenrekorder nicht, sein Song taucht ab, taucht wieder auf, versinkt unter einer tiefen, leisen, pulsierenden Melodie, der gleichen fremdartigen Musik, die er gehört hat, als er durch die Tür zwischen den Welten gestürzt ist, der Musik aller Seelen im Gleichklang. Er will Marybeth etwas sagen, will ihr sagen, dass es ihm leidtut, dass er seine Versprechen nicht halten konnte, die Versprechen, die er ihr und die er sich selbst gemacht hat, will ihr sagen, dass er sie liebt, wie sehr er sie liebt, kann aber nicht sprechen, kann nicht denken mit all dem Licht in den Augen und diesem Summen im Kopf. Ihre Hand. Er hält immer noch ihre Hand. Er drückt wieder ihre Hand, drückt sie noch einmal und versucht ihr durch die Berührung zu sagen, was er ihr sagen muss, und sie erwidert seinen Druck.
    Und er sieht Anna, sieht sie schimmern und glühen wie ein Leuchtkäfer, sieht, wie sie sich am Lenkrad umdreht, wie sie lächelnd den Arm ausstreckt und die Hand auf seine und Marybeths Hand legt und sagt: »He, Jungs, dieser zottelige Hurensohn will sich tatsächlich aufsetzen.«
    47
    Jude blinzelte in das klare, schmerzhaft weiße Licht eines Augenspiegels, der in sein linkes Auge leuchtete. Er wollte sich aufrichten, aber jemand drückte gegen seine Brust und hielt ihn am Boden fest. Er schnappte nach Luft wie eine Forelle, die man gerade aus dem Lake Pontchartrain gefischt und ans Ufer geworfen hatte. Er hatte Anna gesagt, dass sie vielleicht zum Angeln herfahren würden, nur sie beide. Oder hatte er das zu Marybeth gesagt? Er wusste es nicht mehr.
    Der Augenspiegel war wieder verschwunden, und er starrte mit leerem Blick an die schimmelige Küchendecke.

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