Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
durchdringendes Kreischen. Einen Augenblick später erkannte Jude, dass er nicht den Wind draußen hörte, sondern dass das stürmische Heulen von den blutigen Kanten der Tür ausging. Der Wind blies nicht nach draußen, sondern wurde durch die blendend weißen Linien in den Raum hineingesogen. Judes Ohren ploppten, und er musste an ein Flugzeug denken, das zu schnell an Höhe verlor. Papierblätter raschelten, lösten sich vom Küchentisch und wirbelten herum, als jagten sie sich gegenseitig. Winzig feine Wellen kräuselten sich über die große Blutlache, die sich um Marybeths leeres, starres Gesicht ausbreitete.
    Marybeths linker Arm reichte über die Lache hinaus in die Tür. Sie hatte sich auf die Seite gedreht, den Arm ausgestreckt und ihre Hand auf den roten Kreis gelegt, den Jude als Türknauf auf den Boden gemalt hatte.
    Irgendwo bellte ein Hund.
    Dann klappte die auf das Linoleum gemalte Tür auf. Marybeth hätte eigentlich fallen müssen, ihr halberKörper lag über der Öffnung, aber sie fiel nicht. Stattdessen schien sie zu schweben, als läge sie auf einer polierten Glasplatte. In der Mitte des Fußbodens tat sich ein schiefes Parallelogramm auf, eine offene Falle, durchflutet von unglaublichem Licht, das mit blendender Schärfe rund um ihren Körper in den Raum strahlte.
    Durch die Intensität des Lichts verwandelte sich der Raum in ein fotografisches Negativ mit tiefweißen Flächen und unglaublich bleichen Schatten. Marybeth war eine gesichtslose schwarze Gestalt, die auf einer Platte aus Licht schwebte. Craddock, der vor ihr aufragte, hielt sich schützend die Arme vors Gesicht und sah aus wie ein Atombombenopfer aus Hiroshima, eine abstrakte, lebensgroße Skizze, in Asche auf eine schwarze Wand gezeichnet. Immer noch wirbelte Papier über den Küchentisch, nur dass es jetzt schwarz war und einem Schwärm Krähen glich.
    Marybeth hob den Kopf, nur dass es nicht mehr Marybeth war, es war Anna. Sprossen aus Licht leuchteten in ihren Augen, ihr Gesicht war das ernste Gesicht Gottes am Tag des jüngsten Gerichts.
    Warum?, fragte sie.
    Craddock stieß einen zischenden Laut aus. Geh weg. Zurück. Er schwang die goldene Kette im Kreis, und die zischende halbmondförmige Klinge zeichnete einen silbernen Ring aus Feuer in die Luft.
    Und dann stand Anna aufrecht an der Schwelle der glühenden Tür. Jude hatte nicht gesehen, dass sie sich erhoben hatte. In einer Sekunde hatte sie noch gelegen, in der nächsten stand sie schon da. Vielleicht hatte die Zeit einen Sprung gemacht. Die Zeit spielte keine Rolle mehr. Jude hob eine Hand, um seine Augen wenigstens ein bisschen vor dem grellen Licht zu schützen, aber das Licht war überall, man konnte es nicht ausblenden. Er sah die Knochen seiner Hand, die sie umhüllendeHaut hatte die Farbe und Klarheit von Honig. In seinen Verletzungen – der klaffenden Wunde im Gesicht, der aufgespießten Hand, dem Stumpf seines Zeigefingers pochte ein Schmerz, der zerstörerisch und gleichzeitig belebend war. Er glaubte, schreien zu müssen, aus Angst, aus Freude, aus Entsetzen – und aus einem Grund, der all das noch übertraf: aus Ekstase.
    Warum?, sagte Anna wieder und ging auf Craddock zu. Er schlug mit der Kette nach ihr, und die gekrümmte Klinge fuhr ihr durchs Gesicht und schlitzte es vom rechten Augenwinkel über die Nase hinunter bis zum Mund auf. Aber aus dem aufplatzenden Fleisch drang nur neues grelles Licht. Die Strahlen trafen Craddock, und die Stellen, wo sie ihn trafen, fingen sofort an zu qualmen. Anna streckte die Hände nach ihm aus. Warum?
    Craddock kreischte los, als Anna ihn in ihre Arme schloss, schlitzte ihr kreischend mit einem weiteren Hieb die Brüste auf und öffnete damit eine weiteren Spalt zur Ewigkeit, aus der sich das segensreiche Licht über sein Gesicht ergoss, ein Licht, das seine Züge verbrannte, das alles ausradierte, womit es in Berührung kam. Sein heulendes Kreischen war so laut, dass Jude glaubte, es würde ihm die Trommelfelle zerreißen.
    Warum?, sagte Anna und legte ihren Mund auf seine Lippen, und aus der Tür hinter ihr sprangen die schwarzen Hunde, Judes Hunde, riesige Hunde aus Rauch und aus Schatten, mit Reißzähnen aus Tinte.
    Craddock McDermott wehrte sich, versuchte sie wegzustoßen, aber sie hielt ihn fest, riss ihn in Richtung Tür und ließ sich rückwärts mit ihm auf den Boden fallen. Die Hunde schossen um Craddocks Füße herum, zogen sich dabei immer weiter in die Länge, verloren ihre Gestalt und wickelten sich ab

Weitere Kostenlose Bücher