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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Verrückte bohrten sich manchmal Löcher in den Kopf, um die Dämonen herauszulassen, um den Druck der Gedanken zu lindern, den sie nicht länger ertragen konnten. Jude verstand diesen Drang. Jeder seiner Herzschläge war ein frischer, wuchtiger Stoß, den er in den Schläfen und den Nerven hinter seinen Augen spürte. Ein zermürbender Beweis, dass er lebte.
    Ein Schwein mit einem zerquetschten, obszön lächelnden rosa Gesicht beugte sich über ihn. »Heilige Scheiße. Weißt du, wer das ist? Das ist Judas Coyne.«
    Eine andere Stimme sagte: »Kann vielleicht jemand diese verstunkenen Schweine hier rausschaffen?«
    Ein Stiefel trat gegen das Schwein, das sich darauf entrüstet quiekend davonmachte. Ein Mann mit einem gestriegelten hellbraunen Schnauzer und freundlichen aufmerksamen Augen schob sich in Judes Blickfeld.
    »Mr Coyne? Nicht bewegen. Sie haben viel Blut verloren. Wir heben Sie jetzt auf eine Trage.«
    »Anna«, sagte Jude mit unsicherer, keuchender Stimme.
    Kurz schien so etwas wie Schmerz und Bedauern in den hellblauen Augen des jungen Mannes auf. »War das ihr Name?«
    Nein. Falsch. Das war nicht ihr Name, aber Jude hatte nicht die Kraft, um sich zu berichtigen. Dann ging ihm auf, dass der Mann, der sich über ihn beugte, in der Vergangenheit von ihr gesprochen hatte.
    Arlene Wade sprach für ihn. »Ihr Name war Marybeth.«
    Arlene beugte sich von der anderen Seite über ihn und schaute mit ihren riesigen Comicfigur-Augen hinter den Brillengläsern auf ihn herab. Auch sie sprach von Marybeth in der Vergangenheit. Er unternahm einen erneuten Versuch, sich aufzusetzen, aber der schnauzbärtige Sanitäter hielt ihn mit festem Griff unten.
    »Bleib liegen, mein Junge. Versuch nicht, aufzustehen«, sagte Arlene.
    Jude hörte ein metallisches Klappern, schaute an seinem Körper entlang und sah, wie ein paar Männer eine Rolltrage an ihm vorbei in den Flur schoben. An der Stange, die daran befestigt war, schwang ein prallvoller Blutbeutel hin und her. Vom Boden konnte Jude nichts von der Person sehen, die auf der Trage lag, nur eine Hand, die über den Rand hing. Die Entzündung, die Marybeths Handfläche hatte runzelig und weiß werden lassen, war verschwunden. Keine Spur mehr davon. Von der Bewegung der Rolltrage pendelte die kleine schlanke Hand schlaff hin und her. Jude musste an das Mädchen aus seinem Snuff-Film denken, daran, wie es tot zusammengesackt war, als hätte es keinen einzigen Knochen im Leib. Einer der Sanitäter, die die Rolltrage schoben, bemerkte, dass Jude Marybeths Hand anstarrte. Er nahm die Hand und steckte sie unter das Laken. Dann verschwanden er und seine Kollegen, die mit leisen,aufgeregten Stimmen miteinander sprachen, aus Judes Blickfeld.
    »Marybeth?« Seine Stimme war ein gequältes, kaum hörbares Wispern.
    »Sie muss jetzt los«, sagte Arlene. »Der Krankenwagen für dich ist schon unterwegs, Justin.«
    »Los?«, fragte Jude. Er verstand gar nichts.
    »Hier im Haus können sie nichts für sie tun, ganz einfach. Sie muss woanders hin.« Arlene tätschelte ihm die Hand. »Der Wagen für sie ist da.«

AM LEBEN
    48
    Vierundzwanzig Stunden lang dämmerte Jude vor sich hin, wachte auf, schlief wieder ein.
    Einmal schlug er die Augen auf und sah in der Tür seines Einzelzimmers seine Anwältin Nan Shreve mit Jackson Browne plaudern. Jude hatte ihn mal vor Jahren bei einer Grammy-Verleihung getroffen. Er war während der Zeremonie auf die Toilette gegangen, und am Urinal neben ihm hatte zufällig Jackson Browne gestanden. Sie hatten sich nur zugenickt und nicht einmal Hallo gesagt, sodass Jude sich nicht vorstellen konnte, warum Browne jetzt nach Louisiana gekommen war. Vielleicht hatte er einen Gig in New Orleans, hatte gehört, dass man Jude fast umgebracht hatte, und war gekommen, um ihm gute Besserung zu wünschen. Vielleicht musste sich Jude auf eine Prozession von Rock-Heroen einstellen, die sich die Klinke in die Hand gaben, um ihm mit einem »Kopf hoch – keep on rockin'!« beizustehen. Jackson Browne war konservativ gekleidet – blauer Blazer, Krawatte – und trug am Gürtel eine goldene Plakette und einen Halfter mit Revolver. Er schloss die Augenlider und gönnte sich wieder etwas Ruhe.
    Er hatte ein dunkles, dumpfes Gespür dafür, wie die Zeit verstrich. Als er das nächste Mal aufwachte, saß ein anderer Rockstar neben seinem Bett: Dizzy, die Augen ein einziges schwarzes Gekritzel, das Gesicht immer noch von Aids verwüstet. Er streckte die Hand aus, und Jude

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