Blind
rein.« Sie zitterte leicht. »Du bist ja nass bist auf die Knochen, du holst dir noch den Tod.«
»Ach, wirklich?«
»Und ob«, sagte Jude. »Da gibt's gerade einen ganz üblen Fall in der Gegend. Früher oder später erwischt's jeden.«
Er führte sie ins Haus und dann in die dunkle Küche. Er wollte sie gerade fragen, wie sie hierher gefunden habe, als Marybeth von oben herunterrief, wer da sei.
»Reese Price«, sagte Jude laut. »Aus Testament. Florida. Jessica Price' Tochter.«
Einen Augenblick lang war es still, dann kam Marybeth die Treppe heruntergetappt, wo sie auf der letzten Stufe stehen blieb. Jude drückte auf den Lichtschalter neben der Tür.
In der plötzlichen aufflammenden Helligkeit sahen sich Marybeth und Reese schweigend an. An Marybeths gefasstem Gesicht war kaum etwas abzulesen. Ihre Augen taxierten den Neuankömmling. Reese ließ den Blick von Marybeths Gesicht nach unten zu dem silbrig weißen, halbmondförmigen Narbengewebe wandern, das quer über ihren Hals verlief. Reese zog die Arme aus den Jackenärmeln und umschlang ihren Körper. Das Wasser tropfte auf den Boden und bildete rund um ihre Schuhe eine Pfütze.
»Na los, Jude«, sagte Marybeth. »Hol ihr ein Handtuch.«
Jude ging in die Toilette im Erdgeschoss, um ein Handtuch zu holen. Als er in die Küche zurückkam, stand der Kessel auf dem Herd, und Reese saß an der Kücheninsel und erzählte Marybeth gerade von denrussischen Austauschstudenten aus New York, die sie mitgenommen und während der ganzen Fahrt über ihren Besuch auf dem Entire Steak Buildink geredet hatten.
Marybeth machte ihr eine heiße Schokolade und einen Käse-Tomaten-Toast, während Jude nun neben Reese saß. Marybeth verhielt sich wie eine große Schwester. Sie war entspannt und lachte über Reese' Geschichten, als wäre es das Normalste von der Welt, das Mädchen zu bewirten, das ihrem Mann einen Finger abgeschossen hatte.
Die Frauen bestritten den Großteil der Unterhaltung. Reese war auf dem Weg nach Buffalo, wo sie zusammen mit Freunden zu einem Konzert von 50 Cent und Eminem gehen wollte. Danach würden sie alle zusammen zu den Niagarafällen weiterfahren. Einer der Freunde hatte eine Anzahlung auf ein altes Hausboot geleistet, auf dem sie zu sechst eine Weile leben wollten. Das Boot musste hergerichtet werden. Sie hatten vor, es in Schuss zu bringen und dann zu verkaufen. Reese war für die Farbe verantwortlich. Sie hatte eine coole Idee für ein großes Gemälde auf der Außenwand und schon Entwürfe gemacht. Sie zog einen Skizzenblock aus ihrem Rucksack und zeigte ihnen ein paar davon. Ihre Illustrationen waren noch etwas ungelenk, aber auffallend. Es waren Bilder von nackten Damen, von blinden alten Männern und von Gitarren, deren Motive kompliziert ineinander verschlungen waren. Wenn sie es nicht schafften, das Boot zu verkaufen, dann würden sie eben ein Geschäft aufmachen, entweder einen Pizzaladen oder ein Tattoo-Studio. Reese wusste eine Menge über Tattoos und hatte sich auch schon selbst eines gestochen. Sie hob ihr T-Shirt hoch und zeigte ihnen das Tattoo einer blassen, dünnen Schlange, die sich um ihren Bauchnabel ringelte und den eigenen Schwanz auffraß.
Jude fragte dazwischen, wie sie nach Buffalo kommen wolle. Sie sagte, dass sie mit ihrem Reisegeld schon an der Penn Station in New York auf null gewesen sei, weshalb sie den Rest per Anhalter fahren würde.
»Du weißt schon, dass das von hier aus noch dreihundert Meilen sind?«, sagte Jude.
Reese schaute ihn mit großen Augen an und schüttelte dann den Kopf. »Sieht gar nicht so verdammt lang aus, auf der Karte, meine ich. Dreihundert Meilen, wirklich?«
Marybeth nahm Reese' leeren Teller und stellte ihn ins Spülbecken. »Willst du vielleicht irgendjemanden anrufen? Du kannst dazu gern unser Telefon benutzen.«
»Nein, Ma'am.«
Marybeth musste lächeln, und Jude fragte sich, ob jemand sie schon jemals »Ma'am« genannt hatte.
»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte Marybeth.
»Sie ist noch im Gefängnis. Hoffentlich kommt sie nie raus«, sagte Reese und schaute in ihre Tasse. Sie fing an, mit einer langen Strähne ihrer blonden Haare zu spielen. Sie wickelte sie immer wieder um den Finger, genau so, wie Jude es bei Anna tausendmal gesehen hatte. »Ich will nicht mal an sie denken«, sagte sie. »Mir wäre lieber, sie wäre tot oder so. Ich wünsche niemandem, dass er ihr in die Fänge gerät. Sie ist ein Fluch. Wenn ich glauben würde, dass ich mal eine Mutter wie sie
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