Blinde Angst
Carol auf andere Gedanken zu bringen.
Carol stand langsam auf und sah durch das kleine Fenster hinaus.
»Zehn, fünfzehn Meter«, antwortete Carol und ließ sich wieder auf den Boden sinken. Sherry hörte den Laut der Verzweiflung, der zuerst nur leise war; sie wandte sich der Frau zu, um sie in die Arme zu nehmen. Carol stöhnte laut auf und drückte den Mund an Sherrys Schulter. Die Tränen galten nicht ihr selbst, wie Sherry wusste. Carol dachte wahrscheinlich, dass ihre Tochter vielleicht hier in dieser Zelle war. Und hier hatte sie einen ganzen Sommer verbracht, während ihre Mutter am anderen Ende der Insel war.
Sherry dachte an Brigham und war froh, dass er jetzt nicht hier war. Ihm wäre es umgekehrt lieber gewesen, das wusste sie; Brigham war nun einmal so, er versuchte stets, sie zu schützen, und sie war sich immer bewusst gewesen, dass sie dadurch auch eine gewisse Verantwortung trug. In diesem Fall hätte er aber nichts für sie tun können; sie hätten ihn ganz einfach auch getötet.
Natürlich würde Brigham längst nicht mehr tatenlos auf ihre Rückkehr warten. Auch Interpol würde sicher versuchen, alle vorhandenen Informationen zu nützen und das Richtige zu tun, doch Sherry wusste, dass sie dort auf vieles Rücksicht nehmen mussten und deshalb manches für sich behielten. Sherry zweifelte nicht an den guten Absichten der internationalen Polizeibehörde, doch sie hatte ihre eigenen Vorstellungen davon, wie man aus der Tragödie noch etwas Positives herausholen konnte. Sie wollte selbst in dieser Situation noch etwas bewirken; sie wollte beileibe nicht eines dieser vielen Opfer sein, von denen kein Mensch erfuhr.
Aber Brigham würde das sowieso nicht zulassen, dessen war sie sich sicher. Er würde alles tun, was in seiner Macht stand, er würde jedes bisschen Information nutzen, das ihm zur Verfügung stand – auch das, was er über Madame Esmes Hilfsorganisation wusste –, um an Präsident Préval heranzukommen. Und wenn das nichts half, würde er an die Öffentlichkeit gehen.
Sherry hoffte nur, dass es ihm gelang. Sie wollte, dass die Welt von dem erfuhr, was sie gesehen hatte. Sie wollte, dass CNN zeigte, wie Menschen in Käfigen aussahen. Sie wollte, dass die Medienberichte die Leute zum Nachdenken brachten – zum Nachdenken darüber, wie es sein musste, wenn man ohne jede Hoffnung eingesperrt war, mit der Gewissheit, dass man alle Träume von Liebe, Mutterschaft, einem erfolgreichen Leben begraben musste, und dass ihr Leben geopfert wurde, damit irgendwelche Fremde von ihnen profitierten und sich mit ihnen vergnügten.
In der Ferne hörte man, wie Autotüren zugeschlagen wurden. Sherry drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie hob eine Hand und fand eine Lüftungsöffnung in der Wand. »Kannst du da hinaussehen?«
»Lichter draußen«, stieß Carol schluchzend hervor. »Lastwagen.«
Sherry hörte Stimmen. Schritte verhallten in den Gängen des Kellers. Das Surren des Bohrers verstummte.
Sherry hörte Männer sprechen. Die Stimme des Anführers, jenes Mannes, der den alten Hungan erschossen hatte, war auf eine Weise beunruhigend, die Sherry nicht beschreiben konnte.
Die Männer, die mit ihm sprachen, klangen britisch. Es fielen Worte wie »Flashover« und »Rauchexplosion«, doch sie waren zu weit weg und das Schluchzen der Frau zu laut, um Genaueres zu verstehen.
Dann kam die Stimme des Anführers wieder näher, er sprach jetzt Kreolisch, während er auf ihre Zelle zukam.
»Mach auf«, befahl er jemandem.
Sherry hörte ein metallisches Klappern, dann das Quietschen von Scharnieren, als die Tür aufging.
Hände packten sie an den Armen und zogen sie aus der Zelle hinaus.
Sie roch fauligen Atem. Der Mann war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als sie.
Eine Hand packte sie an den Haaren und wickelte sie um die Faust. Sie spürte seine Augen auf ihrem Körper. Sie roch seine Haut, als er sich zu ihr beugte. Plötzlich riss er ihren Kopf zurück und zerrte sie am Arm und an den Haaren über den Lehmboden. Dann sagte Bedard: »Holt die Mutter aus ihrer Zelle, bringt sie alle her. Sie sollen sich alle hinknien.«
Bedard zog eine Zigarre aus seiner Hemdtasche und zündete sie an, während die Frauen geholt wurden.
Sherry hörte, wie sie näher kamen, bis sie etwa drei Meter vor ihr niederknien mussten.
»Du bist also die Mutter des Mädchens.« Bedard ließ Sherry stehen und trat auf Carol Bishop zu. »Die amerikanische Kreuzritterin«, fügte er
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