Blinde Voegel
Weihnachtsmarkt-Foto und das Theodor-Storm-Gedicht.
Moment! Hätte da nicht wenige Tage später Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit folgen müssen?
Beatrice suchte den Dezember, den Januar und den Februar ab. Sie war sicher, dass Pallaufs Posting aus einem dieser drei Monate datierte, aber es war nicht zu finden. Also überprüfte sie auch noch den März, ohne Ergebnis.
Gelöscht. Anders ließ sich das nicht erklären. Dazu musste jemand Gerald Pallaufs Account geknackt haben – und es war sehr wahrscheinlich, dass der- oder diejenige zurzeit als Tina Herbert in der Gruppe unterwegs war.
Warum dieses Gedicht? Was hatte es an sich, dass jemand sich die Mühe machte, sich Zugang zu einem fremden Facebook-Account zu verschaffen, um es verschwinden zu lassen?
Vielleicht stellte es die Verbindung zwischen Pallauf und Beckendahl dar, auf irgendeine seltsame, für Außenstehende unverständliche Weise. Ein weißes Schloss, also die Festung Hohensalzburg, in weißer Einsamkeit, also winterlich verschneit. Waren die beiden sich dort schon einmal begegnet? Nein, nicht, wenn man das glaubte, was Martin Sachs erzählt hatte. Sie hatte sich seine Aussage mindestens fünfmal durchgelesen.
Ich bin ziemlich sicher, er hat sie gar nicht gekannt, bis zu dem Moment, als sie an unserer Tür geläutet hat. Und selbst da hat er mehrmals nachgefragt, ob das nicht ein Irrtum ist.
Beatrice würde sich gedulden müssen. Im Büro lag der Ordner, in dem die Ausdrucke von Pallaufs und Iras Postings abgeheftet waren. Es gab also eine Sicherheitskopie, auf die sie zurückgreifen konnte. Sie würde dem Hacker eine lange Nase drehen können.
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Kapitel siebzehn
G elöscht?» Florins, Blick war so skeptisch wie seine Stimme. «Bist du sicher?»
«Ich bin gestern Abend Beitrag für Beitrag durchgegangen. Alle anderen Gedichte, die Pallauf eingestellt hatte, sind noch da: Storms Weihnachtslied, dieses launige Strick-Gedicht von Wedekind, der ganze Rest, genau wie ich es in Erinnerung hatte. Aber nicht ‹Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit›. Das ist gemeinsam mit dem Festungsfoto verschwunden.»
«Aha.»
«Du kannst gerne selbst nachsehen, wenn du mir nicht glaubst.» Es war nicht zickig gemeint gewesen, hatte aber so geklungen. Sie atmete tief durch. «Ich bin mir ziemlich sicher. Jemand hat sich in Pallaufs Account gehackt und es gelöscht.»
«Oder Crontaler hat es getan.» Mit einer auseinandergebogenen Büroklammer versuchte Florin, etwas zwischen den Tasten seines Keyboards herauszufischen. «Als Administratorin kann sie schalten und walten, wie sie möchte, nicht?»
Natürlich. Warum war das Beatrice nicht schon längst eingefallen? «Du hast völlig recht.» Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte.
«Crontaler.» Diesmal hatte sie Madame selbst am Apparat.
«Hier Beatrice Kaspary. Ich möchte Sie etwas fragen, und zwar: Löschen Sie manchmal Beiträge anderer User in der Gruppe?»
«Was? Nein, das wäre doch … unhöflich. Aber warten Sie, einmal habe ich das trotzdem getan, weil es Streit gab und ich die hässliche Diskussion nicht stehen lassen wollte.»
«Wissen Sie noch, wann das war und um welches Posting es ging?»
Crontaler überlegte nur kurz. «Friederike Zarg hatte ein eigenes Gedicht geschrieben, über den Flughafenlärm in ihrem Wohnort. Es war … bemüht, aber noch nicht ganz ausgereift, und ein paar andere Mitglieder haben sehr spöttisch reagiert. Wenn ich mich nicht täusche, war das vergangenen März.» Sie seufzte. «Genau deshalb ist es mir lieber, wenn wir uns über bekannte Dichter unterhalten und nicht über eigene Werke. Dafür gibt es andere Orte im Internet.»
Beatrice fragte zur Sicherheit noch einmal nach. «Haben Sie eventuell auch eines der Rilke-Gedichte gelöscht, die Gerald Pallauf eingestellt hat? Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit war der Titel.»
«Nein, ganz bestimmt nicht. Was Gerald auch immer getan haben mag, er hatte ein so gutes Gespür für Sprache. Seine Beiträge waren durchdacht, sensibel und klug, die hätte ich nicht entfernt.»
«Und Ihr Mann? Könnte es sein, dass er …»
«Auf keinen Fall. In die Administration der Gruppe mischt er sich nicht ein.»
Und wenn, dann sagt er es dir sicher nicht. «Gut, das war es schon. Vielen Dank.»
«Warten Sie, bitte!»
Beatrice war sehr in Versuchung, so zu tun, als hätte sie Crontalers Ruf nicht gehört, und aufzulegen. Sie wusste, was kommen würde.
«Haben Sie schon eine Spur
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