Blinde Voegel
weiterzureichen?
Dann ist das Thema wenigstens auf dem Tisch, und ich kann mich offiziell darüber wundern, dass sie meine Nummer hat.
Doch Beatrices Handy blieb stumm.
Seit langem der erste Abend, den sie ganz für sich alleine hatte. Beatrice ging den Stapel mit DVDs durch, der sich neben dem Fernseher angehäuft hatte. Sie kaufte immer wieder Filme und Serienstaffeln, weil sie fast alles verpasste, wenn es lief. Ein großer Vorrat, gedacht für Abende wie diesen. Warum gab es in dem ganzen Berg nichts, worauf sie Lust hatte?
Nein, es war das Notebook, das sie reizte. Schon wieder. Als bestünde die Gefahr, dass der Täter sich in Großbuchstaben outete, sobald Beatrice einmal offline war.
Vielleicht würde es ja genügen, ein paar schnelle Blicke auf die neuen Beiträge bei den Lyrikern zu werfen, um sich danach beruhigt zurücklehnen zu können.
Allerdings nicht als Tina Herbert, diesmal. Ihrer virtuellen Doppelgängerin würde sie nicht in die Quere kommen. Aber sie hatte noch Gerald Pallaufs Zugangsdaten – wer weiß, vielleicht hatte jemand eine neue Nachricht auf seiner Pinnwand hinterlassen. Oder eine persönliche Mitteilung geschickt.
Sie loggte sich ein, vergewisserte sich sofort, dass der Account auf «offline» gestellt war, und las sich durch die Statusmeldungen, die andere in Pallaufs Chronik hinterlassen hatten.
Viele waren es nicht. Ein paar unschlüssige «Warum nur?»-Kommentare, einige Beschimpfungen («perverser Mörder, ich hoffe, du schmorst in der Hölle»), vereinzelte traurige Abschiedsworte. Zweimal «Ich glaube nicht, dass du das wirklich getan hast». Doch die letzten dieser Postings waren schon vier Tage alt, seitdem hatte niemand sich mehr hierherverirrt.
Beatrice wechselte auf die Lyrik-Seite, wo die Diskussion rund um den Presseartikel immer noch hohe Wellen schlug. Helen Crontaler hatte sich mit wehleidigen Worten zurückgemeldet: Sie wisse gar nicht, wie sie das aushalten solle. All die Verantwortung auf ihren Schultern. Und dann falle ihr doch tatsächlich jemand in den Rücken, indem er die Gruppe in einem Schmierblatt bloßstelle.
Dabei war «Lyrik lebt» in dem Artikel mit keinem Wort erwähnt worden, wie auch Oliver Hegenloh sofort herausstrich.
Nur Herumgezanke, nichts Interessantes. Die falsche Tina hatte sich den ganzen Abend über nicht mehr gemeldet. Ob sie sich fragte, was in der richtigen Tina vorging? Warum sie sich noch nicht darüber beschwert hatte, dass jemand in ihrem Namen ihren Account nutzte?
Für nichtssagende Streitereien und Helens Selbstmitleid war Beatrice der Abend zu schade. Da war es besser, sich auszuloggen. Sie klickte sich zurück auf Pallaufs Profil und betrachtete bekümmert das runde, strahlende Gesicht auf dem Foto. Das Gespräch mit Ehrmann kam ihr wieder in den Sinn, ihr Versuch herauszufinden, ob er wusste, was Pallauf und Sarah Beckendahl verbunden hatte. Warum sie ausgerechnet bei ihm Unterschlupf gesucht hatte, ohne ihn zu kennen.
«Also, dazu fällt mir mindestens ein guter Grund ein.» Beatrice erinnerte sich noch genau an Ehrmanns erstaunt-misstrauische Miene, die diesen Satz begleitet hatte.
War der Grund, den er meinte, eventuell in Pallaufs Chronik zu finden?
Das festzustellen, würde wieder in Arbeit ausarten. Gerald Pallauf war ein eifriger Facebook-User gewesen, drei bis vier Statusmeldungen pro Tag waren keine Seltenheit. Beatrice klickte und las, klickte und las. Es ging um Computerspiele, Filme, lustige Zitate. Nichts, was Sarah Beckendahls Entscheidung, ihn als Gastgeber auszuwählen, begründet hätte.
Aber sie waren ja auch nicht befreundet gewesen.
Das bedeutete, Ehrmann musste sich auf etwas beziehen, das innerhalb der Gruppe stattgefunden hatte.
Mindestens ein guter Grund. Beatrice wechselte zurück auf die Lyrik-Seite und machte sich auf die Suche nach Pallaufs Einträgen und Kommentaren. Es war eine mühsame Arbeit, und sie hatte das Gefühl, sie schon einmal getan zu haben. Die Beiträge des Sommers. Des Frühsommers. Des Frühlings. Überall, wo Pallaufs Gesicht auftauchte, las Beatrice den ganzen Eintrag, sämtliche Kommentare. Versuchte ein weiteres Mal, in den Gedichten, die er auswählte, ein Muster zu finden, vergeblich.
«Ich verstehe es einfach nicht», sagte sie leise vor sich hin und warf einen Blick auf die Uhr. Toll, schon wieder fast elf. Der Abend war vorbei, völlig sinnlos vertan.
Die Winter-Beiträge, begleitet von jeder Menge Schnee-Bildern. Irgendwo dazwischen Pallaufs
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