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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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im Raum um. »Hier«, sagte er. Ich kaufte Essensbons und bestellte zwei Mittagsmenüs. Bis das Essen gebracht wurde, betrachtete mein Cousin schweigend die Szenerie vor dem Fenster, auf die auch ich zuvor gestarrt hatte – das Meer, die Keyakibäume, die Rasensprenger.
    Am Nebentisch aß ein adrettes Ehepaar mittleren Alters Sandwiches und unterhielt sich über einen Bekannten, der Lungenkrebs hatte. Dass er vor fünf Jahren aufgehört habe zu rauchen, bestimmt zu spät, dass er morgens, beim Aufwachen, Blut spucke und so fort. Die Frau stellte die Fragen, und der Mann beantwortete sie. In gewisser Hinsicht, erklärte der Mann, ist das gesamte Leben eines Menschen in dem Krebs enthalten, an dem er erkrankt.
    Unser Mittagsmenü bestand aus einem Hacksteak und gebratenem weißen Fisch, dazu Salat und Brötchen. Wir saßen einander gegenüber und aßen schweigend. Unterdessen hörte das Ehepaar am Nebentisch nicht auf, darüber zu reden, wie Krebs entstehe, warum er neuerdings so vermehrt auftrete, warum es keine Heilmittel dagegen gebe.

    »Überall ist es ungefähr das Gleiche«, sagte mein Cousin tonlos und sah dabei auf seine Hände. »Alle fragen sie das Gleiche, alle machen sie die gleichen Tests.«
    Wir saßen auf einer Bank vor dem Kliniktor und warteten auf den Bus. Hin und wieder fuhr ein Windstoß in die grünen Blätter über uns.
    »Manchmal kannst du gar nichts hören, oder?«, fragte ich meinen Cousin.
    »Stimmt«, antwortete er. »Gar nichts.«
    »Was ist das für ein Gefühl?«
    Mein Cousin legte den Kopf schräg und überlegte. »Auf einmal höre ich nichts mehr. Aber es dauert eine Weile, bis ich es merke. Jedenfalls höre ich gar nichts mehr, als wäre ich mit Ohrstöpseln auf dem tiefsten Meeresgrund. Eine Weile bleibt das so. Während der ganzen Zeit höre ich nichts, aber es liegt nicht nur an den Ohren. Dass ich nichts hören kann, ist eigentlich nur ein Teil davon.«
    »Stört es dich sehr?«
    Er schüttelte kurz und kräftig den Kopf. »Ich weiß nicht warum, aber es stört mich nicht besonders. Es ist nur unpraktisch. Ich meine, wenn man nichts hört.«
    Ich versuchte es mir vorzustellen, aber es gelang mir nicht.
    »Hast du mal den Film Bis zum letzten Mann von John Ford gesehen?«, fragte mein Cousin.
    »Vor langer Zeit«, sagte ich.
    »Er lief neulich im Fernsehen. Ein richtig toller Film.«
    »Hm«, machte ich.
    »Er fängt damit an, dass ein neuer General in ein Fort im Westen kommt. Ein alter Hauptmann nimmt ihn in Empfang – John Wayne. Der General kennt die Lage im Westen noch nicht gut. Um das Fort herum gibt es Indianeraufstände.«
    Mein Cousin zog ein säuberlich gefaltetes weißes Taschentuch aus der Tasche und wischte sich über den Mund.
    »Als der General im Fort ankommt, sagt er zu John Wayne: ›Ich habe auf dem Weg hierher ein paar Indianer gesehen.‹ Und John Wayne antwortet kühl: ›Das ist okay. Wenn man Indianer sieht, sind in Wirklichkeit keine da.‹ Was er genau sagt, weiß ich nicht mehr, aber ich glaube, ungefähr das. Kapierst du, was er damit sagen will?« Ich konnte mich an einen solchen Satz in Bis zum letzten Mann nicht erinnern. Für einen John-Ford-Film kam er mir ein bisschen sonderbar vor. Aber es war lange her, dass ich den Film gesehen hatte.
    »Vielleicht soll es heißen, dass etwas, das jeder sehen kann, nicht so wichtig ist … Sicher bin ich mir aber nicht.«
    Mein Cousin runzelte die Stirn. »Ich versteh es auch nicht ganz, aber jedes Mal, wenn mich jemand wegen meiner Ohren bedauert, muss ich aus irgendeinem Grund daran denken. ›Wenn man Indianer sieht, sind in Wirklichkeit keine da.‹«
    Ich lachte.
    »Findest du das komisch?«, fragte mein Cousin.
    »Ja«, sagte ich, und nun lachte er auch. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr lachen hören.
    Nach einer Weile sagte er zu mir, als wolle er etwas loswerden: »Du? Könntest du mir mal in die Ohren gucken?«
    »In deine Ohren?« Ich war ein bisschen verwundert.
    »Nur so weit, wie du von außen hineinsehen kannst.«
    »Klar, aber warum?«
    »Ich weiß nicht.« Er wurde rot. »Ich hätte einfach gern, dass du dir anschaust, wie sie aussehen.«
    »In Ordnung«, sagte ich. »Dann wollen wir mal.«
    Mein Cousin setzte sich mit dem Rücken zu mir und wandte mir sein rechtes Ohr zu, ein sehr wohlgeformtes Ohr. Es war eher klein, aber das Ohrläppchen war prall wie eine frischgebackene Madeleine. Noch nie hatte ich ein Ohr so aufmerksam betrachtet. Wenn man genau hinsieht, dann erweist sich das

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