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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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variierten mehr oder weniger von Tag zu Tag, aber das Hauptgericht war stets Huhn. Einmal erzählte ihr ein junger Koch, dass er – als Test – eine Woche lang jeden Tag ein Brathühnchen hinaufgeschickt habe und dennoch nie eine Beschwerde gekommen sei. Normalerweise möchte ein Koch Gerichte jedoch verschieden zubereiten, sodass jeder neue Küchenchef sich am Anfang an allen nur erdenklichen Huhnrezepten versuchte, exquisite Soßen kreierte und neue Geflügellieferanten ausprobierte. Doch stets erwiesen sich solche Bemühungen als fruchtlos und verliefen letztlich im Sande, da nie irgendeine Reaktion erfolgte. Am Ende gaben alle auf und kochten einfach jeden Tag irgendein gängiges Hühnergericht. Die Hauptsache war eben, dass es Huhn war, mehr wurde von den Köchen nicht verlangt.
    An ihrem Geburtstag, dem 17. November, begann sie ihre Arbeit wie gewohnt. Seit dem frühen Nachmittag hatte es in Abständen immer wieder geregnet, und am Abend goss es in Strömen. Um fünf wurden die Angestellten zusammengerufen, und der Geschäftsführer erläuterte ihnen das Abendmenü, das die Bedienungen Wort für Wort auswendig zu lernen hatten. Spickzettel waren nicht erlaubt. Kalbsschnitzel à la Milanese, Pasta mit Kohl und Sardinen, Maronenmousse. Manchmal schlüpfte der Geschäftsführer in die Rolle eines Gastes und stellte Fragen, die die Kellner beantworten mussten. Anschließend wurde das Personal verpflegt, damit bloß keinem beim Umgang mit den Gästen der Magen knurrte.
    Das Restaurant öffnete um sechs, aber wegen des strömenden Regens verspäteten sich die meisten Gäste. Einige sagten ihre Reservierungen sogar ganz ab. Wahrscheinlich wollten die Damen ihre Garderobe nicht vom Regen durchweichen lassen. Der Geschäftsführer presste säuerlich die Lippen zusammen, während die Kellner zum Zeitvertreib die Salzstreuer polierten oder mit dem Koch über Rezepte plauderten. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, in dem nur ein einziges Paar saß, und lauschte der Cembalo-Musik, die leise aus den Deckenlautsprechern kam. Der dumpfe Geruch spätherbstlichen Regens erfüllte das Restaurant.
    Es war nach halb acht, als dem Geschäftsführer schlecht wurde. Kraftlos ließ er sich auf einen Stuhl fallen und hielt sich den Bauch, als habe man ihn angeschossen. Öliger Schweiß trat ihm auf die Stirn. Es sei wohl besser, wenn er ins Krankenhaus führe, stieß er mühsam hervor. Er war äußerst selten krank. In den mehr als zehn Jahren, die er im Restaurant arbeitete, hatte er noch nie gefehlt. Nie war er erkrankt oder hatte sich verletzt. Auch dies war ein Punkt, auf den er besonders stolz war. Doch nun war an seinem schmerzverzerrten Gesicht deutlich zu sehen, dass es ihm ziemlich schlecht ging.
    Sie ging mit einem Schirm hinaus auf die Straße und hielt ein Taxi an. Einer der Kellner stützte den Geschäftsführer und stieg mit ein, um ihn in ein Krankenhaus in der Nähe zu bringen. Ehe er einstieg, gab ihr der Geschäftsführer noch mit schwacher Stimme eine Anweisung. »Um acht bringen Sie das Essen in Zimmer 604. Sie brauchen nur zu klingeln. Dann sagen Sie ›Ihr Abendessen‹ und stellen den Wagen dort ab.«
    »Zimmer 604 sagten Sie, ja?«
    »Pünktlich um acht«, wiederholte der Geschäftsführer und verzog abermals das Gesicht. Die Taxitür schlug zu, und sie fuhren davon.
    Auch später ließ der Regen nicht nach, und nur ab und zu verirrte sich ein Gast ins Restaurant, sodass höchstens immer ein, zwei Tische besetzt waren. Daher war es auch kein Problem, dass der Geschäftsführer und ein Kellner fehlten – Glück im Unglück sozusagen, denn meist war der Ansturm so groß, dass das gesamte Personal kaum damit fertig wurde.
    Als um acht die Mahlzeit für den Inhaber angerichtet war, schob sie den Servierwagen in den Aufzug, um damit in den fünften Stock zu fahren. Alles war wie immer: eine kleine, bereits entkorkte Flasche Rotwein, eine Thermoskanne Kaffee, ein Huhngericht mit heißem Gemüse, Brot und Butter. Der intensive Duft der Fleischspeise breitete sich in dem engen Aufzug rasch aus und mischte sich mit dem Geruch des Regens. Offenbar hatte jemand mit einem nassen Schirm den Aufzug benutzt, denn der Boden war voller Wassertropfen.
    Sie ging den Gang entlang, blieb vor der Tür mit der Nummer 604 stehen und vergewisserte sich in Gedanken noch einmal, ob es auch die richtige war. 604. Sie räusperte sich und läutete an der Klingel neben der Tür.
    Keine Reaktion. Gerade als sie nach etwa

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