Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
menschliche Ohr – sein Bauplan – mit all seinen Windungen, Ausbuchtungen und Furchen als ziemlich rätselhaft. Vielleicht hat sich im Verlauf der Evolution herausgestellt, dass diese sonderbare Form für das Einfangen von Geräuschen oder zum Schutz des Organs dahinter die optimale ist. Von bizarren, asymmetrischen Wällen umgeben, gähnt die Ohröffnung wie der Eingang zu einer dunklen geheimen Höhle.
    Ich stellte mir die winzigen Fliegen vor, die im Ohr der Frau nisten. Die Beinchen voll süßen Blütenstaubs, graben sie sich in die warme Dunkelheit ein, nagen am weichen rosigen Fleisch der Frau, saugen ihre Säfte und legen in ihrem Gehirn winzige Eier ab. Zu sehen sind sie nicht. Nicht einmal ihr Sirren ist zu hören.
    »Das genügt«, sagte ich.
    Mein Cousin drehte sich rasch um und setzte sich wieder mit dem Gesicht nach vorn auf die Bank. »Und? Hast du irgendwas Ungewöhnliches gesehen?«
    »Soweit man von außen sehen kann, ist da nichts ungewöhnlich.«
    »Sag mir ruhig alles – hattest du vielleicht irgendein Gefühl dabei?«
    »Mir kommt dein Ohr völlig normal vor.«
    Mein Cousin wirkte enttäuscht. Vielleicht hatte ich das Falsche gesagt.
    »War die Behandlung schmerzhaft?«, fragte ich.
    »Nicht besonders. Wie immer. Sie haben wieder an der gleichen Stelle herumgefummelt; die muss allmählich ganz ausgeleiert sein. Es kommt mir manchmal gar nicht mehr vor wie mein eigenes Ohr.«

    »Da kommt ein Achtundzwanziger«, sagte mein Cousin kurz darauf zu mir. »Das ist doch unser Bus, oder?«
    Ich war in Gedanken versunken gewesen. Als er mich ansprach, blickte ich auf und sah, wie der Bus abbremste, als er um die Kurve fuhr, die den Hang hinaufführte. Dieser Bus war kein so funkelnagelneuer wie der, mit dem wir hergekommen waren, sondern einer von den alten, die ich von früher kannte. Er hatte vorne ein Schild mit der Nummer 28. Ich wollte von der Bank aufstehen, aber ich konnte nicht. Ich konnte die Glieder nicht bewegen, als stünde ich mitten in einer starken Strömung.
    Ich hatte an die Schachtel Pralinen gedacht, die wir damals an jenem Sommernachmittag ins Krankenhaus mitgenommen hatten. Erfreut hatte das Mädchen den Deckel der Schachtel abgenommen, nur um zu entdecken, dass die Pralinen völlig geschmolzen waren und an den Folien und dem Deckel festklebten. Mein Freund und ich hatten auf dem Weg zum Krankenhaus an der Küste angehalten, uns am Strand geaalt und geredet. Die ganze Zeit über hatten wir die Pralinen in der glühenden Augustsonne liegen lassen. Durch unsere Achtlosigkeit, unsere Selbstsucht waren sie ungenießbar geworden. Wir hätten ein Gespür dafür haben müssen. Einer von uns, egal wer, hätte etwas sagen sollen. Aber an jenem Nachmittag hatten wir für nichts ein Gespür; wir machten nur ein paar dumme Witze, verabschiedeten uns und ließen den mit blinden Weiden überwucherten Hügel zurück.
    Mein Cousin packte mich fest am rechten Arm.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
    Ich kam wieder in die Realität zurück und stand von der Bank auf; diesmal gelang es mir mühelos. Ich spürte den Maiwind wieder, der sanft über meine Haut strich. Für ein paar Sekunden stand ich an einem dämmrigen seltsamen Ort, wo die Dinge, die ich sehen konnte, nicht existierten, wohl aber die unsichtbaren. Doch da hielt vor mir der reale Bus Nummer 28, und seine völlig reale Tür ging auf. Ich stieg ein und fuhr irgendwoanders hin.
    Ich legte meinem Cousin die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung«, sagte ich.

Birthday Girl
    An ihrem zwanzigsten Geburtstag arbeitete sie wie jeden Freitagabend als Kellnerin. Allerdings hätte sie sich an diesem Freitag lieber freigenommen, zumal das andere Mädchen, das in dem Restaurant jobbte, sogar bereit gewesen wäre, mit ihr zu tauschen. Vom Koch angebrüllt zu werden und Kürbis-Gnocchi und frittierte Meeresfrüchte zu den Tischen der Gäste zu schleppen, entsprach nicht gerade ihrer Vorstellung von einem Geburtstag. Leider lag ihre Kollegin mit einer Grippe im Bett und konnte, da sie fast vierzig Grad Fieber und Durchfall hatte, unmöglich für sie einspringen. So kam es, dass sie kurzfristig doch selbst antreten musste.
    »Macht doch nichts«, hatte sie die Kollegin getröstet, als diese sie anrief, um sich zu entschuldigen. »Auch wenn es mein zwanzigster Geburtstag ist, hatte ich sowieso nichts Besonderes vor.« Tatsächlich war sie gar nicht sehr enttäuscht. Der Hauptgrund dafür war der grässliche Streit, den sie vor ein paar Tagen

Weitere Kostenlose Bücher