Blinder Eifer
MARTHA GRIMES - Blinder Eifer
Es war ein kalter, grauer Februarnachmittag, und niemandem fiel auf, daß die junge Frau von ihrer Besichtigungstour in Old Sarum nicht zurückgekommen war. Erst am nächsten Morgen findet man Angela Hope - tot in einer Latrine. Alles sieht nach einem tragischen Unfall aus. Nur Inspektor Jury hat seine Zweifel. Denn kurz zuvor sind bereits zwei andere Frauen unter mysteriösen Umständen gestorben. Eine Stickerin brach in der Kathedrale von Exeter zusammen, eine ältere Dame in der Londoner Tate Gallery. Immer mehr drängt sich Jury der Verdacht auf, daß Angelas Tod kein Zufall war, sondern Teil einer ganzen Kette rätselhafter Todesfälle. Denn die drei Opfer hatten eines gemein: Sie waren alle kurz vor ihrem Tod in Santa Fe. Während die Polizei und Jurys alter Freund Melrose Plant die Nachforschungen in London weiterführen, macht Inspektor Jury sich auf in den amerikanischen Südwesten. Dort glaubt er das entscheidende Puzzlestück finden zu können, um hinter das Geheimnis der mysteriösen Todesserie zu kommen. Mit »Blinder Eifer« erweist sich Martha Grimes einmal mehr als Königin des Spannungsromans. Auf unvergleichliche Weise entfaltet sie ein wahres Panoptikum an Menschen mit dem leisen englischen Hang zur Exzentrik und zum Spleen: ein wahres Feuerwerk der Erzählkunst - hinreißend ironisch und faszinierend abgründig.
Für Diana
ERSTER TEIL
Sonnenaufgang Salisbury
1
Wie die Männer zu Werke gingen, konnte er sich ja vorstellen, aber die Frauen? Da mußte Trevor lächeln, wahrhaftig. Die Latrinen waren große rechteckige Schächte, und kein dezentes Schild führte einen zu Damen/Herren. Lachend lief er den Festungswall entlang und rauchte die erste Zigarette für heute. Er versuchte, sie sich einzuteilen, nicht mehr als zehn pro Tag. Ganz schön hart. Da half einem schon, wenn man Sinn für Humor hatte. Er begann wieder über die Latrinen nachzudenken. Nein, hier galt die Parole »Eine für alle, alle für eine«, egal, ob man die Hosen herunterlassen oder die Röcke hochheben mußte. Trevor machte sich einen Spaß daraus. Immer wenn er am Ausfalltor oder am Palast des Bischofs anhielt, versuchte er, sich in die Zeit der Römer zurückzuversetzen, so zu tun, als sei er einer von ihnen. Manchmal ein Palastwächter, manchmal ein Bäcker im Backhaus - er konnte sich gut in die Rollen hineindenken. Denn er betrachtete sich als Studiosus der Geschichte. Wenn die Dinge in seiner Jugend auch nur ein wenig anders verlaufen wären, wäre er zur Universität gegangen und hätte Geschichte studiert. Da wäre er vielleicht sogar berühmt geworden. Aber Schwamm drüber. Hat nicht sollen sein. Da mußte er eben für sich studieren. Hatte ja jede Menge Zeit, jetzt, wo er in Rente war und zwei Tage die Woche hier Eintrittskarten verkaufte. Darüber hinaus hatte er mehrmals pro Woche seine kleine Gruppe zur Führung. Aber nur im Sommer, wenn die vielen Touristen nach Salisbury kamen. All das konnte einen Mann schon gut auf Trab halten. Und zudem kam man aus dem Haus und der Frau nicht in die Quere. Aus dem Haus zu kommen, das war ein Segen.
Nun befand er sich über dem Palast des Bischofs Roger, so hoch, daß er den Nordwind voll abkriegte. Er zog sich den Kragen enger um den Hals und vergrub die Hände, ohnehin in Wollhandschuhen, tief in den Taschen. Es war Februar und zu dieser Stunde natürlich lausekalt. Nicht, daß er jetzt hier sein mußte, natürlich nicht. Und es stimmte, der Februar war ein grimmiger, rauher Monat. Konnte ganz schön deprimierend sein, wenn man sich zu sehr davon beeindrucken ließ.
Ein Sturm zog auf. Trevor roch den Regen, lange bevor er das Grollen hörte. Es war diese eigenartige Stunde kurz vor der Morgendämmerung. Er liebte den Anblick des ersten schmalen goldenen Saums am Horizont, der die fernen Hügel hinter Salisbury leuchten ließ wie Eishügel. Trev dachte an die Eiszeit. Vor hunderttausend Jahren bestand die Oberfläche der Erde größtenteils aus Eis. Er versuchte sich eine in Eis eingeschlossene Welt auszumalen. Er versuchte sich ein Bild von »vor einhunderttausend Jahren« zu machen. Aber sosehr er seinen alten Kopf anstrengte, er vermochte sich keine solchen Entfernungen in Raum und Zeit vorzustellen. Meine Güte, das gelang ihm ja nicht mal für die Entfernung von hier nach Salisbury.
Freddie Lake, mit dem er im Kartenkiosk arbeitete, mochte den Job nicht, er fand ihn langweilig, tagein, tagaus immer das gleiche. Nichts zu sehen als
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