Blitze des Bösen
jetzt noch gar nichts davon.« Als er ihr
erzählt hatte, sie würden ihren Bruder und ihre Mutter im ThaiRestaurant auf Mercer Island treffen, hatte sie es nicht
bezweifelt. Sie hatte ihm auch geglaubt, daß die restliche
Familie, wie er sagte, nach Bellevue Square gefahren war.
Während der Fahrt nach Denny zur Auffahrt auf die I-5 hatte
sie sich in dem großen Wohnmobil umgesehen und hatte sich
dann wieder auf den Beifahrersitz gesetzt. »Wie kannst du
damit überhaupt fahren?« hatte sie gefragt. »Es ist doch so
riesig.«
Er hatte sie angesehen, und sie hatte etwas Seltsames in seinen Augen entdeckt – er hatte irgendwie anders als sonst
gewirkt. »Ich kann eine ganze Menge, wovon du nichts weißt«,
hatte er geantwortet, und seine Stimme war ihr genauso fremd
vorgekommen wie seine Augen. Sie war zwar nicht beängstigt
gewesen, aber ein wenig unbehaglich war ihr doch geworden.
Deshalb hatte sie sich auch erkundigt, ob mit ihm alles in
Ordnung sei.
Er hatte ihr aber versichert, daß alles zum Besten stünde, und
danach hatte sie wieder aus dem Fenster geschaut und gar
nichts mehr gesagt, bis sie fünf Minuten später Mercer Island
passiert hatten.
»Willst du hier nicht rausfahren«, hatte sie gefragt und nur
deshalb das Schweigen gebrochen, weil er nicht zu bemerken
schien, wie nahe sie der Ausfahrt waren.
Er hatte ihr weder geantwortet, noch war er bei Island Crest
abgebogen. Statt dessen war er auf der Schnellstraße geblieben,
und eine Minute später waren sie schon Richtung Brücke nach
Bellevue unterwegs.
»Dad! Was ist los mit dir?« fragte Heather, als er auch an der
Ausfahrt nach Factoria vorbeifuhr. »Du hättest hier doch
wenden können!«
»Wie kommst du darauf, daß ich hier wenden will?« entgegnete er. Er sah sie genau an, als er mit ihr sprach. Mit plötzlichem Schrecken wurde ihr klar, daß er gar nicht mehr wie ihr
Vater aussah. Er hatte einen sonderbaren Gesichtsausdruck,
einen Ausdruck, wie ihn ihrer Vorstellung nach ein Verrückter
hatte. Und als er seinen Blick auf sie heftete, bekam sie eine
Gänsehaut.
»Aber Dad, was soll das? Wieso bist du nicht bei Mercer
Island abgebogen?
»Weil wir gar nicht dort hinfahren«, antwortete er.
»Aber du hast doch gesagt…«
»Es spielt keine Rolle, was ich gesagt habe. Wir fahren nicht
nach Mercer Island.«
»Und wohin dann?«
»Irgendwo anders hin, wo wir unter uns sind.«
Es waren diese letzten Worte – ‚wo wir unter uns sind’ -, die
Heathers wachsenden Zorn in Furcht umschlagen ließen.
Unter uns.
Warum wollte er das? Seit ihrer Kinderzeit hatte man sie
davor gewarnt, sich niemals mit Männern abzugeben, die
sagten, daß wir »unter uns« sein würden.
Aber das war ihr Vater!
Dann fiel ihr Jolene Ruyksman ein. Sie war letztes Jahr in
ihre Klasse gegangen und hatte versucht, sich umzubringen. Es
stellte sich heraus, daß sie seit ihrem vierten Lebensjahr von
ihrem Vater mißbraucht worden war. Und er hatte ihr immer
gesagt, er würde sie töten, wenn sie jemals davon etwas
weitererzählen würde.
Aber so war ihr Vater nicht. Er hatte sie nie komisch angeschaut oder irgendwelche von den Dingen getan, die in den
Erzählungen ihrer Freunde auftauchten, wenn sie sich darüber
unterhielten, was Jolene zugestoßen war.
Sie erinnerte sich an etwas anderes. An etwas, das ihre
Mutter gesagt hatte, als ihr Vater aus der Klinik heimgekehrt
war. Sie hatte davon gesprochen, daß sich ihr Vater verändert
habe, daß er fast gestorben sei, und daß es lange dauern würde,
bevor er sich vollständig erholen würde. Aber so sehr konnte er
sich doch wirklich nicht geändert haben. Oder etwa doch?
Als sie Issaquah passierten und Richtung Snoqualmie weiterfuhren, sah sie ihn sich genau an. Ein Blitz erhellte den
Himmel, und einen Moment lang war es im Innern des
Wohnmobils taghell. Das weiße Licht ließ das Gesicht ihres
Vaters bleich erscheinen, und als er sich zu ihr drehte und sie
anschaute, fixierte er sie so durchdringend, daß es sie frösteln
machte.
»Kannst du es fühlen?« fragte er. »Kannst du die Elektrizität
spüren?«
Stumm schüttelte Heather den Kopf.
»Du wirst es schon noch fühlen. Und dann…«
Die letzten Worte gingen in einem Donnerschlag unter, der
so stark war, daß er das Wohnmobil erschütterte.
»D… Dad?« fragte Heather, nachdem der Donner vergrollte,
»Dad, was hast du mit mir vor?«
Der Mann, der nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit
ihrem Vater hatte, drehte sich ihr zu
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