Blitze des Bösen
»Bitte, halt doch an! Wir könnten
doch verunglücken!«
Vor ihnen tauchte ein undeutliches Hinweisschild auf. Zwar
konnte er es wegen des Wassers, das über die Windschutzscheibe strömte, nicht entziffern, aber er wußte auch so,
was auf dem Schild stand.
Die Ausfahrt nach Snoqualmie Falls lag nur noch kurz vor
ihm. Richard Kraven nahm seinen Fuß vom Gaspedal und
bremste sanft ab.
Heather klammerte sich mit den Händen an den Armlehnen
des Beifahrersitzes fest und versuchte, einen Blick auf das
Schild zu werfen, als sie daran vorbeifuhren, aber ein Blitz
blendete sie.
Er hatte schon so lange nicht mehr mit ihr gesprochen, sie
nicht einmal mehr angesehen, daß sie sich zu fragen begann, ob
er vergessen hatte, daß sie hier war.
Was war hier los? Was war mit ihrem Vater passiert?
Heute morgen, als er mit Kevin zum Angeln gefahren war,
schien alles noch in Ordnung gewesen zu sein. War es denn
möglich, daß man innerhalb weniger Stunden verrückt wurde?
Sie dachte an Kevin. Wo war er? Hatte ihr Vater ihn heimgebracht, bevor er sie von Rayette abgeholt hatte?
Sie warf wieder einen heimlichen Blick auf das Gesicht
neben sich, das nur vom Leuchten des Armaturenbretts erhellt
wurde. Obwohl seine Gesichtszüge noch immer als die ihres
Vaters zu erkennen waren, zeigten sie einen Anflug von
Bösartigkeit, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und
als er sie vor einem Moment kurz angesehen hatte, hatte sie das
schreckliche Gefühl gehabt, daß er gerade plante, was er mit
ihr tun wollte.
Als sie die Autobahn verließen, beugte sich Heather nach
vorn und suchte nach einem Anhaltspunkt, wo sie waren.
Wenn sie in eine Stadt kämen oder auch nur an einer Tankstelle vorbei, wollte sie hinausspringen, bevor er anhalten
konnte. Ob der Wagen dann noch rollte, war ihr egal.
»Schnall dich an, Heather. Und leg deine Hände aufs
Armaturenbrett.«
Die harte, kalte Stimme – eine Stimme, wie sie sie noch nie
von ihrem Vater gehört hatte – veranlaßte sie, dem Befehl
sofort zu folgen.
Das Wohnmobil fuhr langsam weiter, und der Mann, der es
steuerte und so aussah wie ihr Vater, redete wieder.
»Versuch ja nicht abzuhauen. Ich bin stärker als du, und
wenn du die Tür berührst, kriege ich dich. Dann wirst du
bereuen, daß du abgehauen bist. Mach dich darauf gefaßt!«
Heathers Herz pochte. Was meinte er damit? Was wollte er
tun? Als das Wohnmobil nach links abbog und Heather
schließlich die Hauptstraße nach Snoqualmie erkannte, hielt sie
Ausschau nach jemandem, der ihr helfen konnte. Doch die
Straße war verlassen; der grausame Sturm hatte sie vom Verkehr leergefegt.
Sie mußte schluchzen, aber nicht nur aus Angst, sondern
auch aus Enttäuschung. Wenn es schon hier niemanden gab,
der ihr helfen konnte, konnte sie ihre Hoffnung erst recht
begraben, wenn sie die Lichter der Stadt hinter sich gelassen
hatten.
Als sie am Ende der Stadt angekommen waren, fragte der
Mann: »Du hast wohl Angst vor mir, Heather?«
Heather, zu betäubt, um nachdenken zu können, nickte nur
stumm.
»Du weißt, daß ich nicht dein Vater bin, stimmt’s?«
Wieder brachte Heather nur ein Nicken zustande.
»Weißt du, wer ich bin?«
Sie schüttelte den Kopf, doch etwas in seiner Stimme zwang
sie, ihn anzuschauen.
Er lächelte, doch es war ein Lächeln ohne jede Wärme. Er
starrte sie an, und seine kalten Augen durchbohrten sie förmlich.
»Mein Name ist Richard Kraven.«
Heather erstarrte. Was meinte er? Richard Kraven war tot!
Er war an dem Tag hingerichtet worden, an dem ihr Vater den
Herzinfarkt hatte! Doch obwohl sich ihr Verstand dagegen
wehrte, wußte sie, daß seine Worte der Wahrheit entsprachen.
Auch wenn der Körper dieses Mannes der ihres Vaters war,
sagten ihr seine Stimme und seine Augen, daß er es nicht sein
konnte. »Was wollen Sie?« fragte sie mit kaum hörbarer
Stimme.
Richard Kravens kaltes Lächeln erstarrte zur Fratze: »Ich
will dich berühren, Heather. Ich will dein Herz berühren.«
68. Kapitel
»Das ist doch reiner Wahnsinn«, sagte Anne Jeffers. Sie hatte
keine Ahnung, wo sie waren. Sie hatten schon ewig keinen
Wegweiser mehr gesehen, und außer ihnen war auf der engen
Straße, die den Fluß entlang führte, niemand unterwegs. Die
dichte Dunkelheit schien das Licht der Scheinwerfer von Mark
Blakemoors Auto völlig zu absorbieren, und der klatschende
Regen verhinderte die Sicht schon nach wenigen Metern. Der
heftige Sturm zwang Mark, im Schneckentempo zu fahren, und
Annes
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