Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
eingepasste Messingplatten mit Namen und Geburtsdaten. Sie markieren die Häuser, aus denen Ortsansässige in die Konzentrationslager deportiert wurden. Leningrader Frauen und Kinder, die dasselbe Regime genauso vorsätzlich ermordete, litten ungesehen und sind bis heute überwiegend fern jeder offiziellen Erinnerung.
Der andere Grund dafür, dass man wenig über die Belagerung geschrieben hat, besteht natürlich darin, dass die Sowjetunion wahrheitsgetreue Äußerungen unmöglich machte. Während des Krieges war die Zensur allgegenwärtig. Russen außerhalb des Belagerungsrings – und westliche Beobachter umso mehr – hatten nur sehr vage Vorstellungen von den Zuständen innerhalb der Stadt. In sowjetischen Nachrichtensendungen wurden »Not« und »Mangel« eingeräumt, nie jedoch Hungersnot, und Moskowiter waren verblüfft und entsetzt über die privaten Erzählungen von Freunden, die über den Ladogasee hatten entkommen können. Britische und amerikanische Medien plapperten die sowjetischen Meldungen nach. Als die anfänglichen Schlachten um Leningrad nicht zum Stillstand kamen, flauten die BBC-Berichte ab, und ein Jahr später berichtete die London Times mit enormer Untertreibung über die Schaffung eines schmalen, aus der Stadt hinausführenden Landkorridors. Die Leser erfuhren, dass die Leningrader während des ersten Belagerungswinters »schreckliche Entbehrungen« durchgemacht hätten, doch mit Beginn des Frühjahrs seien die Bedingungen »sogleich besser« geworden. 4 Die Bürokratie der Alliierten tappte gleichermaßen im Dunkeln. Ein Angehöriger der britischen Militärmission in Moskau, damals ein junger Marineleutnant, erinnert sich daran, dass seine einzige Informationsquelle über die wahren Verhältnisse eine mit ihm befreundete Schauspielerin war, die ihren Eltern Lebensmittel in die Stadt brachte, indem sie sich einen Platz im Flugzeug eines Generals erbettelte. 5
Nach dem Krieg gab die Sowjetregierung zu, dass sich eine Hungersnot ereignet hatte, und zitierte bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen eine absurd präzise Opferzahl von 632253. Freimütige öffentliche Schilderungen der Gräuel blieben jedoch tabu, ebenso sämtliche Debatten darüber, warum man zugelassen hatte, dass die deutschen Heere so weit hatten voranrücken können, und warum vor der Einkesselung keine Lebensmittelvorräte angelegt und nicht mehr Zivilisten evakuiert worden waren. Die Grenzen des Möglichen wurden mit dem Beginn des Kalten Krieges und durch Stalins Einleitung von zwei neuen Säuberungen – im Jahr 1949 – sogar noch enger gezogen. Die erste Maßnahme, heimlich durchgeführt, fegte die Leningrader Kriegsführerschaft und die Parteiorganisation hinweg, die zweite – gegen den »Kosmopolitismus«, ein Codewort für Judentum oder angebliche prowestliche Tendenzen – ereilte Hunderte von Leningrader Hochschullehrern und sonstigen Fachkräften. Im selben Jahr besuchte einer von Stalins Kumpanen, Georgi Malenkow, das populäre Museum der Verteidigung Leningrads, das selbstgebastelte Lampen, ein Modell eines Brotladens der Kriegszeit (inklusive einer Ration Brot für einen Erwachsenen, bestehend aus zwei dünnen Scheiben) sowie Trophäen aus den Kampfhandlungen enthielt. Aufgebracht durch die Räume schreitend, den Reiseführer schwenkend, brüllte Malenkow: »Hier wird uns weisgemacht, dass Leningrad ein besonderes ›Blockadeschicksal‹ erlitt! Dies setzt die Rolle des großen Stalin herab!« Dann ließ er das Museum schließen. Der Direktor wurde »der Anhäufung von Munition zur Vorbereitung terroristischer Akte« angeklagt und zu fünfundzwanzig Jahren Gulag verurteilt. 6
Nach Stalins Tod im Jahr 1953 und Nikita Chruschtschows Aufstieg an die Macht wurde es endlich möglich, auf andere Aspekte des Krieges, abgesehen von Stalins militärischem Genie, einzugehen. Neben Chruschtschows »Geheimrede«, in der Stalins Personenkult angeprangert wurde, und der Veröffentlichung von Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch brachte das »Tauwetter« 1960 die Eröffnung der ersten Gedenkstätte für die zivilen Kriegsopfer Leningrads mit sich. Dazu wählte man den Piskarjowskoje-Friedhof in den nordöstlichen Vororten der Stadt, auf dem sich die größten Massengräber der Kriegszeit befanden. Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew ging noch weiter und baute die Belagerung als eines der Zentralstücke in den Kult des Großen Vaterländischen Krieges ein, um von dem niedrigen Lebensstandard und
Weitere Kostenlose Bücher