Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
großen Städte Russlands zu verteidigen.
Das Hauptopfer dieses Mangels an Vorbereitung war Leningrad. Unmittelbar vor dem Krieg zählte die Stadt eine Bevölkerung von knapp über drei Millionen Menschen. In den zwölf Wochen bis Mitte September 1941, als die deutschen und finnischen Streitkräfte die Stadt von der übrigen Sowjetunion abtrennten, wurden eine halbe Million Leningrader eingezogen oder evakuiert, und die übrigen 2,5 Millionen Zivilisten, wenigstens 400000 davon Kinder, blieben innerhalb der Stadt gefangen. Hunger machte sich sofort bemerkbar, im Oktober meldete die Polizei die ersten ausgemergelten Leichen auf den Straßen. Die Todesfälle vervierfachten sich im Dezember und erreichten im Januar und Februar mit fast 100000 pro Monat einen Höhepunkt. Am Ende des sogar nach russischen Maßstäben bitterkalten Winters – an manchen Tagen fiel die Temperatur auf –30 °C oder noch tiefer – hatten Frost und Hunger etwa eine halbe Million Menschenleben gefordert. Auf diese Monate des Massentods – die russische Historiker als »heroische Periode« der Belagerung bezeichnen – konzentriert sich das vorliegende Buch. Die beiden folgenden Belagerungswinter waren nicht ganz so unheilvoll, weil es weniger Münder zu füttern gab – sowie dank der Lebensmitteltransporte und der Massenevakuierung über den Ladogasee im Osten von Leningrad, dessen südöstliche Ufer die Rote Armee weiterhin kontrollierte. Im Januar 1943 wurde durch die Kämpfe zudem ein schmaler Landkorridor aus der Stadt hinaus geschaffen, durch den die Sowjets eine Eisenbahnlinie bauen konnten. Gleichwohl blieb die Sterbeziffer unter Zivilisten hoch und stieg bis Januar 1944, als die Wehrmacht endlich ihren langen Rückzug nach Berlin einleitete, auf 700000 bis 800000 an. Damit erfasste sie jeden dritten bis vierten Bewohner aus der Zeit vor der Belagerung.
Erstaunlicherweise widmet man der Belagerung Leningrads im Westen kaum Aufmerksamkeit. Der bekannteste umfassende Bericht – von Harrison Salisbury, einem Moskauer Korrespondenten der New York Times – wurde 1969 veröffentlicht. Militärhistoriker konzentrieren sich auf die Schlachten um Stalingrad und Moskau, trotz der Tatsache, dass Leningrad die erste Stadt war, die Hitler nicht erobern konnte, und dass ihm durch ihre Einnahme die größten Waffenproduktionsstätten, Schiffswerften und Stahlwerke in die Hände gefallen wären. Auch hätten sich seine Heere mit denen Finnlands zusammenschließen und damit die Eisenbahnstrecken blockieren können, auf denen die Alliierten ihre Hilfslieferungen aus den arktischen Häfen Archangelsk und Murmansk heranbeförderten. Für die meisten Betrachter geht die Belagerung in der düsteren Weite der Ostfront verloren – einer leeren, von Schnee gepeitschten Ebene, in der Wellen von sowjetischen Wehrpflichtigen mit flatternden Wintermänteln auf massiertes deutsches Maschinengewehrfeuer zustolpern. Beunruhigenderweise zeigte sich im Entstehungsprozess dieses Buches häufig, dass Freunde von mir die Städte Leningrad (das an der Ostsee liegt und heute wieder St. Petersburg heißt) und Stalingrad (das ein Drittel der Größe hat, an der heutigen Grenze mit Kasachstan liegt und inzwischen Wolgograd heißt) für identisch hielten.
Eine etwas andere Art der Unwissenheit findet sich bei vielen Deutschen, die die Ostfront bis vor Kurzem als Schauplatz militärischen Leids, als Szene unsäglicher Gräueltaten einschätzten. Millionen von Deutschen müssen mit der Tatsache leben, dass ein Eltern- oder Großelternteil Mitglied der NSDAP war; weitere Millionen haben einen Vater oder Großvater, der an der Ostfront kämpfte. Es ist leichter, sich daran zu erinnern, dass diese Verwandten Frostschäden erlitten und verängstigt waren, dass sie hungerten und in Gefangenenlagern Zwangsarbeit leisten mussten (fast vier von zehn der 3,2 Millionen Achsensoldaten, die in sowjetische Gefangenschaft gerieten, starben dort 2 ), als sich vorzustellen, dass sie Dörfer niederbrannten, Bauern Winterkleidung und Lebensmittel raubten und dabei halfen, Juden zusammenzutreiben und zu erschießen. Im Allgemeinen weicht Leningrad im deutschen Schuldbewusstsein hinter dem Holocaust zurück. »Um zynisch zu sein«, sagt ein deutscher Historiker, »es gibt so viele problematische Aspekte unserer Geschichte, dass wir eine Auswahl treffen müssen.« 3 Beim Spaziergang durch Freiburg, wo das deutsche Militärarchiv untergebracht ist, stößt man auf kleine, in den Bürgersteig
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