Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Belagerung aufrichtiger werden, wenn die letzten blokadniki dahingeschieden sind.
Der abschließende Sinn dessen, die Geschichte der Belagerung Leningrads nachzuerzählen, besteht jedoch nicht darin, bisher wenig beachtete Brutalitäten in den Vordergrund zu rücken, die Sowjetpropaganda zu entlarven oder die Bewertung des großen Diktators zu berichtigen. Vielmehr soll dieses Buch, wie alle Geschichten von der Menschheit in extremis , uns daran erinnern, was es heißt, Mensch zu sein, welche Höhen und Tiefen das menschliche Verhalten erreichen kann. Es ist leicht, eine Beziehung zu den beredtesten Opfern – den Tagebuchschreibern, deren Stimmen den Kern der Darstellung bilden – zu finden. Sie sind keine gesichtslosen Bauern aus einer verarmten Welt, sondern gebildete europäische Stadtbewohner – Schriftsteller, Künstler, Universitätsdozenten, Bibliothekare, Museumsdirektoren, Fabrikleiter, Buchhalter, Rentner, Hausfrauen, Studenten und Schulkinder, Besitzer von Sonntagsmänteln, Grammofonen, Lieblingsromanen, Haushunden –, kurz, Menschen wie wir selbst. Manche erwiesen sich als Helden, andere als egoistisch und verhärtet, die meisten als Mischung aus beidem. Eine Memoirenautorin beschreibt die Parteivertreter in ihrem Militärlazarett der Kriegszeit folgendermaßen: »Es gab gute, schlechte und die üblichen.« Ihre Worte sind das beste Zeugnis.
1
22. Juni 1941
Fährt man von der früher Leningrad genannten Stadt sechzig Kilometer nach Südwesten, erreicht man das, was die Russen als Datschengegend bezeichnen: eine grüne, unbestellte Landschaft mit kleinen Seen, unbefestigten Feldwegen, hohen, rostfarbenen »Schiffskiefern« und Sommerhäusern aus verwittertem Holz, an die durchsackende, verglaste Veranden angebaut sind. Am Sonntagmorgen des 22. Juni 1941 sonnte sich Dmitri Lichatschow, ein fünfunddreißigjähriger Experte für mittelalterliche russische Literatur, mit seiner Frau und seinen Töchtern am von Uferschwalben wimmelnden Strand des Flusses Oredesch.
Das Ufer war steil, und ein Pfad führte oberhalb unseres Strandes daran entlang. Eines Tages, als wir an unserem Strand saßen, hörten wir Fetzen eines beängstigenden Gesprächs. Urlauber spazierten über den Pfad und redeten davon, dass Kronstadt bombardiert werde, anscheinend von irgendeinem Flugzeug. Zuerst überlegten wir, ob sie über den Finnlandfeldzug von 1939 sprachen, aber ihre aufgeregten Stimmen beunruhigten uns. Nach unserer Rückkehr zur Datscha erfuhren wir, dass der Krieg ausgebrochen war.
Am Mittag versammelten sich die Lichatschows mit anderen Urlaubern um einen Lautsprecher im Freien, um der formellen Kriegsankündigung zu lauschen. Der Redner war nicht Stalin, sondern der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow. »Männer und Frauen, Bürger der Sowjetunion«, begann er, »heute Morgen um vier Uhr griffen deutsche Soldaten – ohne Kriegserklärung und ohne Forderungen gegenüber der Sowjetunion – unser Land an.« Sein Tonfall ließ Schock und Kränkung erkennen. »Dieser Überfall hat trotz der Tatsache stattgefunden, dass es einen Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland gibt – einen Pakt, dessen Bedingungen von der Sowjetunion gewissenhaft eingehalten wurden.« Am Ende fand er mitreißendere Worte: »Unsere Sache ist gut. Unser Feind wird vernichtet werden. Der Sieg wird unser sein.« Im Anschluss an die Sendung waren »alle sehr bedrückt und leise … Nach Hitlers Blitzkrieg in Europa erwartete niemand etwas Gutes.« 2
Überall in Leningrad wurden geruhsame Mitsommerwochenenden auf ähnliche Art ruiniert. In ihrer Wohnung im Stadtzentrum, unweit von Potemkins Taurischem Palais, war Jelena Skrjabina schon früh aufgestanden, um vor einem Ausflug aufs Land noch ein paar Tipparbeiten zu erledigen. Der Sonnenschein, die kühle Morgenluft, die Stimme ihres Kindermädchens, das ihren fünfjährigen Sohn Jura vor der Tür beschwichtigen wollte – all das bedeutete, dass sie »heiter gestimmt, voller Vorfreude« war. Ihr älterer Sohn, der vierzehnjährige Dima, war bereits mit einem Freund aufgebrochen, um mitzuerleben, wie die Springbrunnen im Park des großen Barockpalastes Peterhof, draußen am Finnischen Meerbusen, angeschaltet wurden. Um neun Uhr rief ihr Mann aus seiner Fabrik an. Er teilte ihr aufgeregt mit, sie solle zu Hause bleiben und das Radio anmachen. Am Mittag hörten Jelena und ihre Mutter Molotows Ankündigung. »Das war es also: Krieg!
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