Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
der politischen Stagnation abzulenken. In dieser Version wandelten sich die Leningrader von Kriegsopfern zu Akteuren in einem heroischen nationalen Epos. Manche Leningrader seien verhungert, doch auf edle Weise zur Verteidigung ihrer geliebten Stadt. Niemand habe gemurrt, sich vor der Arbeit gedrückt, das Rationierungssystem manipuliert, Bestechungsgelder angenommen oder sich Ruhr zugezogen. Und niemand, außer ein paar faschistischen Spionen, habe gehofft, dass die Deutschen siegen würden.
Der Zusammenbruch des Kommunismus vor zwei Jahrzehnten bot, mit den Worten eines russischen Historikers, die Möglichkeit, »den Sirup abzuwischen«. Regierungsarchive wurden geöffnet und verschafften Zugang zu internen Parteimitteilungen und Geheimdienstberichten über Kriminalität, öffentliche Meinung und die Arbeit verschiedener Behörden, zu den Prozessakten politischer Häftlinge, den Meldungen politischer Offiziere von der Front und den Abschriften von Telefonaten zwischen der Leningrader Führung und dem Kreml. Literaturzeitschriften publizierten unzensierte Belagerungsmemoiren und -tagebücher, Zeitungen brachten freimütige Interviews mit immer noch zornigen Veteranen der Roten Armee und Überlebenden der Belagerung. Nicht zuletzt veröffentlichte man zum ersten Mal zahlreiche Fotos, die keine fröhlichen Komsomolzinnen mit einem Spaten über der Schulter zeigten, sondern Kinder mit spindeldürren Beinen und hervorstehenden Bäuchen oder chaotische Haufen halbnackter Leichen.
Obwohl noch Lücken vorhanden sind – manche Texte gelten weiterhin als vertraulich, andere wurden während der Nachkriegssäuberungen vernichtet –, straft das neue Material die breschnewsche Version der Belagerung Lügen. Gewiss, die Leningrader legten außerordentliche Geduld, Selbstlosigkeit und Courage an den Tag, aber sie begingen auch Diebstähle und Morde, ließen Verwandte im Stich und aßen Menschenfleisch – wie es in allen Gesellschaften geschieht, wenn die Vorräte ausgehen. Gewiss, das Regime schaffte es, die Stadt zu verteidigen, raffinierte Nahrungsergänzungen zu ersinnen sowie Nachschub- und Evakuierungslinien über das Eis des Ladogasees einzurichten. Aber es war auch für Verzögerungen und Schlamperei verantwortlich, es verschwendete das Leben von Soldaten, indem es sie unausgebildet und unbewaffnet in die Schlacht schickte, es versorgte seine eigenen hohen Apparatschiks, während alle anderen Bürger hungerten, und es vollzog Tausende sinnloser Exekutionen und Verhaftungen. Der sowjetische Gulag war, wie die Historikerin Anne Applebaum bemerkt, vom Leben in der übrigen Sowjetunion getrennt, doch gleichzeitig ein Mikrokosmos davon: »Schlampig gearbeitet wurde hier wie dort, die stumpfsinnige Bürokratie, die Korruption, die Missachtung menschlichen Lebens gab es überall.« 7 Das Gleiche gilt für Leningrad während der Belagerung: Weit davon entfernt, sich von der gewöhnlichen Sowjeterfahrung abzuheben, bildete die Stadt die sowjetischen Verhältnisse in einer konzentrierten Miniatur nach. In diesem Buch soll nicht der Standpunkt vertreten werden, dass Stalin im selben Maße wie Hitler die Schuld an der Hungersnot getragen habe. Allerdings ist auch festzuhalten, dass die Zahl der zivilen und militärischen Todesopfer unter einer anderen Regierung viel niedriger hätte ausfallen können.
Für viele Russen ist dies schwer zu verkraften. In der russischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es nicht viel zu feiern, und der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland ist zu Recht eine Quelle des Stolzes und des Patriotismus. Wenn Wladimir Putin, wie Breschnew vor ihm, aufwändige Jahresfeiern für Kriegsereignisse veranstaltet, findet er ein dankbares Publikum. Ein Element der taktvollen Selbstzensur spielt ebenfalls eine Rolle, denn die heroisierte Version Breschnews schmeichelte nicht nur dem Regime, sondern linderte auch das Trauma für Überlebende der Blockade. 8 Es ist schwierig – wenn nicht bisweilen grausam –, öffentlich Zweifel über die tapfere alte Frau zu äußern, die freundlicherweise ein Interview gibt, in dem sie erzählt, wie Nachbarn einander geholfen und Mütter sich für ihre Kinder geopfert hätten oder welch gute Fürsorge in einem Evakuierungslazarett an der Tagesordnung gewesen sei. Sie verbreitet keine Propaganda oder baut Mythen auf, sondern sie hat sich eine Variante der Vergangenheit geschaffen, mit der sie leben kann. Paradoxerweise dürfte die Diskussion über die
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