Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Deutschland bombardierte bereits Städte der Sowjetunion. Molotows Rede klang stockend, hastig, als ginge ihm der Atem aus. Mit einemmal hatte man das Gefühl, ein Ungeheuer nähere sich drohend …« Jelena ging hinaus auf die Straße, auf der sich Menschenmengen drängten; »sie stürzten sich auf die Läden und kauften alles …, was ihnen in die Hände fiel«:
Viele gingen in die Sparkassen, um ihre Einlagen abzuheben. Diese Welle erfaßte auch mich. Auch ich versuchte, Rubel zu bekommen, die auf meinem Sparbuch waren. Aber ich kam zu spät: Die Kasse war leer, die Auszahlungen wurden eingestellt. Alles lärmte, beschwerte sich. Und der Junitag brannte lichterloh, die Hitze war unausstehlich heiß. Jemandem wurde übel, jemand zankte sich verzweifelt. Den ganzen Tag über war die Stimmung unruhig und gespannt. Erst gegen Abend wurde alles seltsam still. Es war, als hätten sich alle vor dem Schrecken verkrochen. 3
Am selben Morgen um elf Uhr ging Juri Rjabinkin, ein magerer Fünfzehnjähriger mit einer Topffrisur und großen dunklen Augen, die Sadowaja-Straße entlang, um in den Gärten des Pionierpalastes (einst Anitschkow-Palast) neben der Anitschkow-Brücke an einem Schachwettbewerb für Kinder teilzunehmen. Ihm fiel auf, dass die Polizisten Gasmasken bei sich hatten und rote Armbinden trugen, doch er nahm an, dass es sich um eine der üblichen Zivilschutzübungen handelte. Als er seine Schachfiguren aufstellte, bemerkte er, dass eine Menschenmenge einen kleinen Jungen in der Nähe umringte. »Ich lauschte – und erstarrte. ›Heute morgen um vier haben deutsche Bomber Kiew, Schitomir, Sewastopol und andere Orte angegriffen‹, erzählte der Junge aufgeregt. ›Molotow hat im Rundfunk gesprochen. Wir sind jetzt im Krieg mit Deutschland!‹ … In meinem Kopf geht alles durcheinander. Ich begreif gar nichts. Ich habe drei Partien Schach gespielt und seltsamerweise alle drei gewonnen, dann bin ich heimgegangen.« Nach dem Abendessen wanderte er durch die stickigen, von Anspannung erfüllten Straßen und wartete zweieinhalb Stunden lang auf eine Zeitung – in der Schlange wurden »Witze gerissen« und es fielen »skeptische Bemerkungen« –, bis schließlich bekanntgegeben wurde, dass man keine Zeitungen, sondern »nur ein offizielles Bulletin« erhalten werde. »Die Uhr«, schrieb Rjabinkin mit jugendlicher Bedeutungsschwere spät am Abend in sein Tagebuch, »zeigt halb zwölf. Ein ernster, entscheidender Kampf ist im Gange, zwei antagonistische Gesellschaftsordnungen sind aufeinandergeprallt: Sozialismus und Faschismus! Von der Zukunft dieses großen historischen Kampfes hängt das Wohl der gesamten Menschheit ab.« 4
Die Leningrader hätten eigentlich auf den Zweiten Weltkrieg – den Großen Vaterländischen Krieg, wie sie ihn noch heute nennen – besser als andere Sowjetbürger vorbereitet sein müssen, denn sie hatten aus nächster Nähe beobachtet, wie er sich anbahnte. Nach dem deutsch-sowjetischen Pakt vom August 1939 hatte die Sowjetunion nicht nur Ostpolen, sondern auch, im Juni 1940, die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie die von Seen beherrschten südlichen Marschen Finnlands, nördlich von Leningrad, besetzt.
Vor allem der »Winterkrieg« mit Finnland bot einen Vorgeschmack auf die kommende Mühsal. Er wurde am 30. November 1939, drei Monate nach dem deutschen Einmarsch in Polen, begonnen, und die Russen erwarteten, dass er nicht lange dauern werde. »Wir brauchten bloß einmal auf den Tisch zu schlagen, dann würden die Finnen schon parieren«, erinnerte sich Chruschtschow. »Sollte das nicht klappen, könnten wir einen Schuß abfeuern, und die Finnen würden die Hände heben und sich ergeben. Das jedenfalls glaubten wir.« 5 In Wirklichkeit wurde der Krieg zu einer Demütigung. Trotz ihrer winzigen Bevölkerung – 3,7 Millionen, verglichen mit fast 200 Millionen in der Sowjetunion – leisteten die Finnen hartnäckigen Widerstand und zwangen die Russen, eine überwältigende Zahl von Soldaten einzusetzen. Als die Rote Armee Finnland am 12. März 1941 endlich zur Kapitulation zwang, wonach sie die zweitgrößte Stadt Viipuri (heute das russische Wyborg) und die gesamte Landzunge zwischen dem Finnischen Meerbusen und dem Ladogasee annektierte, hatte sie mit 127000 Opfern einen hohen Preis zahlen müssen. Infolge der Gerüchte, die sich aus den Lazaretten verbreiteten, erhielten die Leningrader erste Hinweise auf die Schwächen des eigenen Heeres, was Führung,
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