Blood and Chocolate - Curtis Klause, A: Blood and Chocolate - Blood and Chocolate
Einzelgänger zwängten sich in Onkel Rudys heruntergekommenes viktorianisches Haus in Riverview. Mit etwas Glück würde ihnen niemand hierher folgen, und sie konnten sich ein neues Revier erschließen.
Das Haus in der Sion Road hatte sich allmählich geleert, als die anderen nach und nach Arbeit und Unterkunft fanden, bis nur noch Vivian, Esmé und Onkel Rudy übrig waren. Vivian hatte geglaubt, es müsse doch mittlerweile längst Pläne für die Zukunft geben, aber stattdessen schien das ganze Rudel verrückt geworden zu sein, ihre Mutter eingeschlossen. Nachdem über die Hälfte von ihnen tot war, kannte niemand mehr seinen Platz in der Rangordnung. Ständig gab es Zank. Ihr Überleben hing davon ab, dass sie nicht auffielen, sondern sich in die Ortsgemeinschaft integrierten, während sie sich organisierten und entschieden, wohin sie ziehen
und wo sie sich endgültig niederlassen würden. Doch jeden Augenblick konnte das Rudel in einem Feuerball aus Pelz und fliegenden Gliedmaßen explodieren. Sie brauchten dringend einen Anführer, doch man konnte sich auf niemanden einigen.
Dazugehören , dachte sie. Wenn ich es doch nur könnte.
Letzten Sommer hatte sie sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer versteckt und viel geschlafen. In den frühen Morgenstunden, wenn Wölfe nach Hause kamen, um ihr Fell abzulegen, hörte Vivian, wie ihre Mutter untröstlich an ihrem offenen Schlafzimmerfenster um jemanden weinte, der nie wieder nach Hause kommen würde.
Doch als die Schule anfing und Vivian in die elfte Klasse kam, aß sie schon wieder beinahe regelmäßig, und Esmé hatte eine Stelle als Kellnerin im Tooley’s, einem Bikerschuppen, gefunden. Allmählich war es nicht mehr so schwer, den Tag hinter sich zu bringen. Vivian war nicht länger erschöpft, wenn sie um halb vier nach Hause kam, und sie sah auch wieder Sinn in der Schule und im Lernen.
Nach und nach blickte sie sehnsüchtig zu den Gruppen Jugendlicher, die nach Schulschluss lachend zusammen um den Fahnenmast standen.
Zuerst dachte sie: Warum sollte ich mich mit Leuten anfreunden, die mich umbrächten, wenn sie wüssten, was ich bin? Und wenn ich mich verrate? Doch die Sehnsucht ließ nicht nach. Da merkte sie erst, dass sie gar nicht wusste, wie man Freundschaften schloss.
Sie hatte immer das Rudel um sich gehabt, das sich
jetzt allerdings in seinen einzelnen Höhlen versteckte. Es waren immer genug Rudelkinder da, sie hatte sich nie um Gesellschaft bemühen müssen, denn sie war ja ständig von anderen umgeben gewesen. Natürlich gab es immer noch die Fünf, aber jetzt ertrug sie es nicht mehr, Zeit mit ihnen zu verbringen, und sie konnten sowieso niemals bloß Freunde sein. Sie alle betrachteten Vivian als Weibchen – wenn man nett zu dem einen war, waren die anderen eingeschnappt und bissen um sich. Kämpfen, kämpfen, kämpfen, das war alles, was sie konnten.
Ich will andere Freunde , dachte sie. Doch niemand schien mit ihr befreundet sein zu wollen.
Es war nicht so, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie war groß und hatte lange Beine, wie ihre Mutter, volle Brüste, eine schlanke Taille und schmale Hüften, die sich aber doch weiblich rundeten. Ihre Haut war leicht golden; das war sie immer, ob die Sonne nun schien oder nicht, und ihre dunkelblonden Haare waren dick und lang und unbändig.
Warum verstummten die Mädchencliquen also, wenn Vivian in der Schule auf sie zuging, und antworteten ihr nur knapp und abweisend, beendeten das Gespräch, bevor es angefangen hatte? Sah sie zu gut aus? War das möglich? War das die Bedrohung, die sie sahen? Sie war ein wunderschöner loup-garou , das wusste sie – die Fünf warben heulend um sie -, doch was sahen Menschenaugen?
Die Jungen stießen sich gegenseitig an und flüsterten miteinander, wenn sie vorüberging; sie hatte es aus dem
Augenwinkel gesehen. Sie bemerkten sie. Und sie hatte Verständnis dafür, dass der eine oder andere errötete und ins Stammeln geriet, wenn sie sich mit ihm unterhielt. Es gab immer schüchterne Jungs, die tausend Tode starben vor Nervosität, wenn ein Mädchen sie bemerkte. Aber wo waren die Beherzten?
Jungen oder Mädchen, sie sträubten sich gegen sie. Konnten sie den Wald in ihren Augen sehen, den Schatten ihres Pelzes? Waren ihre Zähne zu scharf? Es ist schwer, kein Wolf zu sein , dachte sie. Sie vermisste die Berghänge, wo die Menschen weit fort waren und das Rudel ganz nah, und wo sie sich so gut wie nie verstellen musste.
Es ist mir egal , dachte sie und
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