Bluescreen
Drogerien oder nachts im Fernsehen billig zu verkaufen. Ich lag auf meinem Bett in unserem Bostoner Vorort, spulte immer wieder zurück und lernte den Text, der auf dem Beat betont wird, zerhackt in einfache Viertelnoten:
»Don’t – push – me – ’cause – I’m – close – to – the . . .
edge
I’m – try – in’ – not – to – lose – my – head . . .
Ha ha ha ha
It’s like a jungle sometimes it makes me wonder how I
keep from goin’ under.«
Die Strophen habe ich damals nicht gelernt, und ich kann sie bis heute nicht auswendig. In meinem Kopf stellte ich jedoch eine Verbindung zwischen dieser Stimme, vor allem dem zornigen Lachen, und dem Rätsel der Schallplatten her, die aus dem Fenster hoch oben in der Wohnsiedlung segelten.
Ein Standardmotiv, das in allen Erzählungen über die eigene Hip-Hop-Biografie auftaucht (bei Fans, aber auch bei den Musikern), ist der Moment, in der die jeweilige Person zum ersten Mal hört, wie jemand einige Minuten am Stück rappt. Man realisierte, dass da etwas Außergewöhnliches passierte, das einen sofort veränderte. Jay-Z zum Beispiel beschreibt in seiner Autobiografie Decoded , wie er einen Teenager sah, der bei den Marcy Housing Projects (am, von der Delancey Street aus gesehen, anderen Ende der Williamsburg Bridge in Brooklyn, gerade einmal eine U-Bahn-Station entfernt) inmitten einer kleinen Gruppe von Menschen stand und ohne Begleitung ein paar Takte freestylte.
Als Hip-Hop im Bewusstsein der amerikanischen Öffentlichkeit auftauchte, war selbst mir als weißem Mittelklasse-Kind aus der Vorstadt, das davon im Radio und im Fernsehen so gut wie nichts mitbekam und das von der schwarzen Community komplett abgeschnitten war, klar, dass hier etwas Bedeutendes vor sich ging. Auch ich wollte unbedingt Werte in dieses Phänomen hineinlesen, um es »realer« zu machen. Politische Werte, die eine Alternative zu Ronald Reagans grinsendem Kürbiskopf darstellten, den ich zur Zeit seiner Wiederwahl 1984 bereits aus den Abendnachrichten kannte und der mir bald wie die Fratze des Todes vorkam.
Im Nachhinein wundere ich mich darüber, wie viele musikalische Schlüsselmomente der frühen Geschichte desHip-Hop ich über die Jahre hinweg selbst mitbekommen habe. Ich kann mich noch daran erinnern, es muss so 1985 gewesen sein, dass ich abends lange aufblieb, weil ein kleiner Musik- TV -Sender in Boston Run- DMC spielte. 1988 gelang es mir dann irgendwie, Straight Outta Compton von N.W.A. auf Kassette aufzutreiben, obwohl die Platte damals im Radio nicht gespielt oder beworben wurde, weil die Medien sie wegen Songs wie »Fuck tha Police« oder »Gangsta Gangsta« an den Pranger stellten. People’s Instinctive Travels in the Paths of Rhythm von A Tribe Called Quest kannte ich in- und auswendig, die ersten Alben von De La Soul ebenso. Damals gab es übrigens Weiße, die zu berichten wussten (wie sie an diese Informationen kamen, ist mir bis heute nicht klar), diese Bands würden in der schwarzen Community als »Hippie-Rapper« oder »Rucksack-Rapper« verspottet. Zwei Acts aus dem Goldenen Zeitalter des Hip-Hop, Black Sheep und Ice-T, sah ich sogar – mehr oder weniger aus reinem Zufall – live und mit eigenen Augen: einmal aus einer Distanz von etwa zehn Metern (ich hatte einen Sitzplatz), einmal aus einer Entfernung von wenigen Zentimetern (man hatte mich gegen die Absperrung vor der Bühne gepresst). Ich kam also durchaus mit Hip-Hop in Kontakt, aber er blieb so etwas wie ein offenes Geheimnis, eine Art von Wissen, das da war, das man aber nie bewusst nutzte. Vermutlich ging es anderen Weißen in meinem Alter ähnlich. Viele von uns machten damals den Fehler, uns dem Hip-Hop (als was eigentlich genau: einer Identität?) nicht voll und ganz hinzugeben. (Auch hier gab es natürlich Ausnahmen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verblüfft ich war, als ich eine frühe Ausgabe des Fanzines The Source in die Fingerbekam und sah, dass zwei weiße Jungs das Heft herausbrachten.)
Ich hatte also alle Chancen, mein Herz an den Hip-Hop zu verlieren. Ich habe es einfach nicht getan. Irgendwann kommt eben der Augenblick, in dem man sich für eine Musikrichtung entscheiden muss, die einen von diesem Moment an definieren wird. Es geht dann nicht mehr um das rein private Vergnügen, sich im Kinderzimmer irgendwelche Platten anzuhören, sondern um viel mehr: um Klamotten, Verhaltensweisen, Freunde, die ganze öffentliche Identität. Wenn wir
Weitere Kostenlose Bücher