Blut & Barolo
allein und fern der Rotte aufhalten. Und nichts war gefährlicher als eine verletzte Sau.
Giacomo wollte nicht näher heran, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Er schloss die Augen und sog die Luft in tiefen, harten Schüben ein, immer wieder, doch kein einziges Aroma erreichte ihn.
Vorsichtig lugte er deshalb um den Stamm, setzte sogar eine Pfote vor.
Der Schemen drehte sich zu ihm.
Giacomo erkannte Augen, in denen Sorge und Überraschung lagen. Doch er wusste gleich, dass dieses Wesen ihn nicht angreifen würde. Es war nur ein Mensch, einer ohne Dach über dem Kopf, einer von denen, die über die Wärme eines Gullydeckels glücklich waren und sich wie er über ein Tramezzino im Mülleimer freuten. Giacomo gab dem Bruder im Geiste einen freundschaftlichen Stupser mit der Schnauze. Menschen brauchten das ab und zu. Was hatte den armen Kerl nur hierhin verschlagen? Es gab so viele gemütlichere Orte auf der Welt, Brücken, unter denen sich schlafen ließ, geschützte Hauseingänge, Papiercontainer. Der arme Mensch war viel zu dünn angezogen für jemanden ohne Fell. Der lächerliche Schal war bereits an den Stellen gefroren, wo der Atem ihn befeuchtet hatte. Vielleicht käme heute die letzte Nacht für diesen Menschen.
Der alte Trüffelhund legte sich zu ihm, gab ihm ein wenig von seiner Wärme ab. Eine Hand berührte sein Fell, und Giacomo schob sie nicht fort, obwohl ihm sonst jedes Streicheln zuwider war. Er würde dem Mann beistehen, bis sich der Schneesturm legte. Dann wäre die Luft klar, und er könnte wieder schnuppern.
Die Hand des Menschen drückte ihn mit einem Mal fest an sich.
Giacomo blieb fast die Luft weg.
Am sonst so beschaulichen Duomo war mittlerweile der Irrsinn ausgebrochen. Amadeus saß im hintersten Winkel seiner Ecke, um den an ihm vorbeischießenden Schuhen und Schneestiefeln auszuweichen. Niemand beachtete ihn, stattdessen drängten Frauen und Männer, einige auf Armen oder Schultern Kinder tragend, hinein in das Kirchenschiff, obwohl es längst bis zum Bersten gefüllt sein musste. Es fand keine Messe statt, keine Beerdigung, kein Gebet. Amadeus hatte keine Glocke läuten gehört. Warum also wollten die Menschen hinein?
Wenn in diesem Getümmel jemand das Tuch raubte, würde er den Dieb nicht ausmachen können. Nichts würde es nützen, dass sich der Geruch des Tuches dank des kleinen Leinenfetzens bei ihm eingebrannt hatte. Die Kirche war so voller Menschen, dass deren Wärme den Schnee vor den Toren schmelzen ließ. So als wäre der Winter vorbei, als herrsche bereits Frühling.
Amadeus würde seinen Posten nicht verlassen. Auch auf die Gefahr hin, zertrampelt zu werden. Dies war seine erste Bewährungsprobe, und er würde sie mit Bravour bestehen! Ein Wächter verließ niemals seinen Platz. Speisen wurden ihm gebracht, und seine Notdurft verrichtete er über einem rostigen Straßengully wenige Schritte entfernt; nur einmal am Tag, in den frühen Morgenstunden, wenn die Sonne gerade aufging. So war es den Wächtern seit Jahrhunderten vorgeschrieben.
Einen solchen Aufmarsch hatte es am Duomo nie zuvor gegeben, sonst hätte ihm sein Vater davon erzählt. Das Verhalten der Menschen war Amadeus ein Rätsel. Obwohl sie in die Kirche strömten, hatte er das Gefühl, genau dortbefände sich der Ursprung ihres Schreckens. Weinen drang von drinnen, Heulen, Schreie des Entsetzens. Er verstand die Worte nicht, denn seine Meute hielt sich stets fern von den Menschen. Doch sie klangen klagend und schmerzensreich.
Amadeus lugte um die schwere Steinmauer. Er wollte nur linsen, einen kurzen Blick riskieren, nicht mehr. Doch sofort riss ihn die Menschenmasse einer Lawine gleich mit. Er jaulte auf, als ein Bein gegen seinen Kopf schlug, er musste nachgeben, geriet in den Strudel der stampfenden Füße, wollte zurück, doch spülte ihn die Welle hinein, wo sie an noch mehr Menschen und Beinen zerschellte. Knie bohrten sich in seinen schlanken Leib, und die Luft blieb ihm weg. Ein Fuß traf seine Blase, und sie entleerte sich.
Plötzlich gab es wieder Raum um ihn. Und Luft. Wenn auch warme, abgestandene. Die Lücke riss auf wie die Masche einer Strumpfhose, und Amadeus folgte ihr, bemerkte nicht, wie sie sich hinter ihm zögernd wieder schloss, sah nur geradeaus. Und näherte sich dem Platz, den er so nie hätte sehen sollen: Der lichtlose, klimatisierte Metallsarg, in dem das Sindone aufbewahrt wurde, stand offen.
Und war völlig leer.
Dahinter fiel ein schwerer Purpurvorhang von der
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