Blut und Harz
Abgrund bewahren. Seine Muskeln spannten sich unter dem weiten, wallenden Gewand. Mit einem Ruck ließ er sich auf die Knie ins tote Laub fallen und wuchtete seine Fäuste in die noch warme Erde. Altes Laub wirbelte auf und Erdkrumen spritzten davon. Seine Hände rissen dabei den Himmel nach unten, ein Wolkenfetzen löste sich und wirbelte als dunkler Sog dem Boden entgegen.
Noch bevor ein weiterer Atemzug seine kräftigen Lungen füllte, brach der Tornado mitten auf der Straße des 17. Juni los.
Mit dem Tosen des Sturms setzten die Schreie ein, klagende Rufe der Menschen, die sich von einem Augenblick zum anderen dem brüllenden Tode gegenüber sahen. Kreischend stoben Besucher des Tiergartens in alle Richtungen davon, suchten ihr Heil in der Flucht. Mütter rissen ihre weinenden Kinder mit sich. Andere starrten paralysiert in Richtung des Sturms. Sie konnten es nicht glauben, was sich in diesen Momenten abspielte. Ein Tornado in Berlin! Handys wurden gezückt, Kameras aus den Taschen genestelt und alles in der Gier, das grausige Naturschauspiel zu dokumentieren.
Den Mann interessierte es nicht.
Er hatte den ersten Schritt vollbracht. Ohne Eile erhob er sich und trat aus dem dichten Gebüsch, das ihn vor Blicken geschützt hatte. Selbst wenn ihn jetzt jemand sah, würde niemand von einem alten Mann Notiz nehmen.
Ohne hinter sich zu blicken, lief er gemessenen Schrittes los. In Panik geratene Menschen stürmten an ihm vorbei, Blätter regneten durch die Luft, Plastiktüten, Verpackungen, herrenlose Zeitungen. Eine junge Frau hastete vorbei, doch ihr Fuß blieb just in diesem Moment an einer knorrigen Wurzel hängen. Sie hing mit rudernden Armen wie eine Marionette in der Luft, dann stürzte sie zu Boden. Mit einem dumpfen Knacken, das sogar trotz des Sturms zu hören war, schlug ihre Stirn auf einem Randstein auf. Ihr Körper blieb reglos liegen.
Der Mann würdigte sie keines zweiten Blickes. Unbeirrt eilte er Richtung Siegessäule, dem tosenden Tornado entgegen, der immer noch weiter anschwoll. Die Bäume beugten sich dem mächtigen Wind und erste dicke Regentropfen schlugen auf dem Boden auf. Ihre Berührung auf der Haut war kalt, eisig, trostlos.
Unmittelbar vor ihm tauchte ein Jugendlicher hinter einer Eiche auf und rannte blindlings in ihn hinein. Ein Zigarettenstummel wirbelte davon, erlosch im Regen. Der Mann, der den Tornado beschworen hatte, wurde von der unerwarteten Wucht des Zusammenstoßes von den Füßen geholt und stürzte hart auf die Erde. Der Junge hingegen strauchelte nur fluchend.
»Bist du blind?« schrie ihm der Teenager hysterisch entgegen. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Du rennst in die falsche Richtung!« Seine Hand packte den Gestürzten und zerrte ihn wieder auf die Beine. »Komm! Wir müssen fliehen!«
Doch weiter kam der Teenager nicht. Der alte Mann ergriff seinerseits das Handgelenk, das ihn vom Unwetter bewahren wollte, und riss mit einer ruckartigen Bewegung daran. Der Junge wurde unvermittelt durch die Luft gewirbelt und krachte mit voller Wucht an den Stamm der Eiche. Seine Karl Kani Cappy flog davon. Er sackte in sich zusammen, bewusstlos oder sogar tot.
Den Mann interessierte es nicht.
Der Junge hatte seine gerechte Strafe erhalten, dafür, dass er ihn aufhalten wollte. Ohne weitere Störungen machte er sich wieder auf den Weg, auf den Weg ins Herz des Sturmes.
Mittlerweile stürzte der Regen sintflutartig vom Himmel, wurde teilweise vom Wind mitgerissen und peitschte aus allen Richtungen über die Wege und Wiesen. Sein Habit war bereits vollständig durchnässt. Er spürte das grabkalte Wasser auf der nackten Haut.
Den Mann interessierte es nicht.
Er hatte Wichtigeres zu tun. Er musste zu seiner Schöpfung, er musste ihr den rechten Weg weisen. Er musste die Naturkatastrophe durch Berlin führen.
Kapitel 1
Mit eisigen Fingern strich ihm eine Windböe durchs dichte Haar. Totes Laub tanzte über die dunkle Granitplatte und erzeugte ein leises Rascheln, das einzige Geräusch, das Elias Ritter vernahm. Nichts hatte sich verändert. Der Friedhof seiner Heimatstadt lag immer noch einsam und verlassen da wie eh und je und das Familiengrab wirkte noch genauso verwaist wie vor einem Jahr.
Hast du Mutter einmal besucht, Vater? Warst du im letzten Jahr überhaupt ein einziges Mal hier?
Bei näherer Betrachtung konnte sich Elias die Fragen selbst beantworten. Die prächtigen Blüten des rostfarbenen Blumengestecks streckten sich zwar gen Himmel, doch die Farbe des
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