Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Heute bin ich zum Dieb geworden. Ich habe schon früher etwas gestohlen, doch heute wurde ich zum Dieb. Diejenigen, die sich für so etwas interessieren, sprechen von Herbst-Tagundnachtgleiche. Ein guter Zeitpunkt, um zum Dieb zu werden, denn für kurze Zeit ist alles im Gleichgewicht, ehe die dunklen Kräfte allmählich die Oberhand gewinnen. Ich hatte es nicht geplant. Ich plane nur das Notwendigste. Alles andere mag sich entwickeln, wie es will. Ich ging an einem Laden vorbei und erblickte ein Diktiergerät. Ich blieb stehen und ging hinein. Der Junge hinter der Theke war träge und desinteressiert. Ich bat ihn, etwas herauszusuchen, das ich nicht brauchte, und steckte mir rasch das Diktiergerät in die Tasche. Erst draußen auf der Straße wusste ich, wozu ich es benutzen würde. Wenn du dies hörst, dann weißt du es auch. Denn eines Tages wirst du meinen Worten aufmerksam lauschen. Ich weiß noch nicht genau, wie ich es anstellen werde, aber in Gedanken sehe ich dich schon vor mir liegen, unfähig, dich zu bewegen. Du kannst die Briefe wegwerfen oder verbrennen. Du kannst mich vergessen und dir einreden, dass ich tot bin, obwohl du genau weißt, dass ich irgendwo da draußen lebe. Doch wenn du meine Stimme hörst, wirst du dich an alles erinnern, was du zu mir gesagt hast, und an alles, was ich zu dir gesagt habe. Einst hast du mir von den Zwillingen erzählt. Du hast so viel gelesen und warst so gebildet und wolltest alles mit mir teilen, wo ich doch so gut wie nie ein Buch anrühre. Hieß er nicht Castor, der eine von ihnen? Wir saßen im Klassenzimmer, bevor die anderen hereinkamen, und du erzähltest von ihnen. Castor und Pollux hießen die beiden. Sie waren nicht voneinander zu unterscheiden. Und als der eine in den Himmel kam, wollte der andere lieber in die Hölle, weil sein Bruder dort war. Um mit ihm zusammen zu sein. Bestimmt weißt du nicht mehr, dass du mir davon erzählt hast, aber ich habe es nicht vergessen. Es ist ein sehr gutes Diktiergerät. Man kann Gesagtes löschen, ändern oder mit Hilfe von ein paar Knöpfen einzelne Wörter einfügen. Aber all das brauche ich nicht. Du sollst meine Worte unverfälscht hören, ohne nachträgliche Änderungen. Es ist dieser eine Gedanke, der mich gleichzeitig beruhigt und erregt: dass du endlich verstehst, was du getan hast.
TEIL I
1
Montag, 24. September
D ie Frau saß reglos mit dem Rücken zum Fenster. Ihre Arme hingen schlaff herunter. Ihr aschfahles Gesicht schien erstarrt zu sein. Sie trug eine Bluse und eine grüne Hose. Eine Jacke in derselben Farbe hing ihr lose über den Schultern. Sie hatte hohe, markante Wangenknochen, ihre Augen waren immer noch blaugrün, doch an der Iris zeichnete sich ein milchweißer Rand ab. Unmittelbar hinter ihrem Kopf bog sich ein nackter Birkenzweig im Wind.
Plötzlich glitt die Zunge über ihre Zähne, ehe sie den Mund öffnete und den Besucher durchdringend ansah.
»Ich warte hier schon den ganzen Tag«, sagte sie. »Höchste Zeit, dass sich hier endlich mal ein Polizist blicken lässt.«
Sie stand auf, trippelte auf ihren hohen Sandalen durch das Zimmer und vergewisserte sich, dass die Tür fest geschlossen war. Dann trippelte sie zurück und setzte sich in den anderen Sessel, der neben dem Schreibtisch stand. In seltenen Augenblicken waren ihre Bewegungen wieder so energisch wie früher. Die hastige Bewegung, mit der sie sich eine Locke ihrer Dauerwelle aus der Stirn strich, war ihm sehr vertraut.
»Der Grund, warum ich Sie hierhergebeten habe …« Sie hielt inne, um erneut aufzustehen, die Tür zu öffnen und einen Blick auf den Flur zu werfen.
»Hier kann man niemand trauen«, erklärte sie und warf die Tür mit einer Entschlossenheit zu, die ihren Worten vermutlich Nachdruck verleihen sollte. Als sie wieder in dem braunen Ledersessel saß, glättete sie die Hose über ihren Knien.
»Ich warte schon den ganzen Tag«, wiederholte sie, jetzt mit Verzweiflung in der Stimme. »Ich will eine Vermisstenanzeige aufgeben. Sie müssen dringend etwas unternehmen!«
Der Besucher war ein Mann in den Vierzigern. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug und darunter ein schlichtes, graublaues Hemd. Die oberen Knöpfe waren geöffnet, ohne dass er deshalb weniger elegant gewirkt hätte.
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, entgegnete er, indem er einen Blick auf die Uhr warf.
»Es geht um meinen Mann«, fuhr die Frau fort. »Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«
»Aha«, sagte der
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