Blut Von Deinem Blute
in der Stimme.
Aber ich gebe ihr keine Antwort, sondern heule einfach weiter.
Irgendwann kommt Mia und bringt mir Nellie, die ich am Strand zurückgelassen habe. Ich sage ihr, dass ich sie hasse und ihr niemals verzeihen werde. Sie schaut mich an, und in ihrem Blick liegt etwas wie Betroffenheit, was mich nur noch wütender macht. Ich werfe Nellie in einen Busch und laufe davon, und Mia rennt ein ganzes Stück hinter mir her. Aber kurz vor La Pulente gibt sie auf, und als ich mich das nächste Mal zu ihr umdrehe, ist sie verschwunden.
Später denke ich, dass die Weichen für all das, was später geschehen ist, vielleicht schon damals gestellt wurden, an diesem Nachmittag am Strand.
Zumindest kommt mir ausgerechnet dieser Nachmittag in den Sinn, als ich die weiß gekleideten Kriminaltechniker beobachte, die auf unserem Grundstück herumlaufen und buchstäblich jeden Stein umdrehen. Ich sehe zu, wie sie Fotos machen, und während sich in meinem Kopf weiße Anzüge mit grauen Wellen vermischen, fällt mir ein Mann auf, der zu mir herauf blickt. Er hat stechende graue Augen und trägt einen dunklen Anzug, und ich frage mich, wer er ist und was er von mir will.
Der Mann macht mir Angst, und um ihn auszublenden, sehe ich plötzlich die Küche des Herrenhauses, die groß und düster ist, weil die Sonne den dahinter liegenden Hof nur in den frühen Morgenstunden erreicht. Dort, zwischen Herd und Spüle, liegen die entstellten Leichen meines Vaters und Madame Bressons, und über mir, in einem hastig bereitgestellten Hotelzimmer, liegt meine Schwester. Unser Hausarzt hat ihr ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt, weil sie dabei war, als Conchita Perreira, eines unserer Zimmermädchen, die Leichen entdeckt hat. Tante Cora sagt, dass Mia durch den Anblick der beiden Toten einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, aber das glaube ich nicht. Wenn es so gewesen wäre, hätte sie niemals tun können, was sie getan hat. Und irgendjemand, ich weiß nicht wer, hat mir später auch erzählt, dass sie eigentlich ziemlich gefasst war.
Mein Rücken schmerzt, weil sich die Holzstreben der Rückenlehne in mein Fleisch bohren. Aber ich mag nicht aufstehen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es gefährlich wäre, den Raum zu verlassen.
Als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter fühle, denke ich zuerst, dass es mein Vater ist, der mal wieder irgendwas zu meckern hat, und unwillkürlich sehe ich auf meine Füße hinunter. Aber meine Sandaletten sind trocken. Und dann fällt mir auch wieder ein, dass mein Vater tot ist.
Miss Bradley?
Ja?
Diese grauen Augen blicken überhaupt nicht freundlich. Und sein Ton ist es auch nicht. Dabei müsste er doch eigentlich freundlich sein, oder? Ich meine, geht man nicht irgendwie anders um mit Menschen, die gerade ihre Eltern verloren haben? Behutsamer?
Kann ich Sie kurz sprechen? Ich hätte mich gern über ein paar Dinge mit Ihnen unterhalten ...
3
Die Insel roch noch genauso, wie Laura sie in Erinnerung hatte. Eine befremdliche Mischung aus Blütenduft und Tang. Sie stolperte die rutschige Gangway hinunter und blieb dann einen Augenblick stehen, um sich an den Geruchzu gewöhnen, während ihre Mitreisenden ungeduldig an ihr vorbeidrängten.
»Schau mal, Papa!«, rief ein Junge von ungefähr sechs Jahren dicht neben ihr. »Da drüben wachsen Palmen!«
Der Vater, ein bleicher Erfolgstyp, ließ seine Handykamera sinken und legte seinem Sohn den Arm um die Schultern. »Toll, nicht?«
Der Junge nickte und wandte den Kopf. »Und wo ist jetzt das Meer?«
»Irgendwo da hinten, glaube ich«, entgegnete der Mann mit einer vagen Geste, und Laura hätte am liebsten laut losgelacht. Das verdammte Meer ist überall, gab sie dem Jungen im Stillen zur Antwort. Das liegt daran, dass das hier eine Insel ist!
»Gehen wir an den Strand?«, wollte der Kleine wissen, während sein Vater ihn sanft mit sich fortzog.
»Natürlich.«
»Jetzt gleich?«
»Wenn wir ausgepackt haben.«
»Ich habe Benjamin versprochen, dass ich ihm eine Muschel mitbringe. Für sein Aquarium.«
»Tatsächlich?« Der junge Vater lächelte gerührt. »Dann suchen wir ihm eine besonders schöne, ja?«
Laura blickte den beiden nach, als sie Hand in Hand auf das Flughafengebäude zugingen. Sie hatte nie verstanden, was so viele Menschen am Meer faszinierte. Für sie war die See ein ungewisser Ort voller toter Seeleute, die aus rostigen Schiffswracks trieben und beim Schwimmen nach ihren Fußgelenken schnappten. Sie schüttelte den
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