Blutige Küsse und schwarze Rosen
das Foto, das er von Nico bekommen hatte.
Elias hob es auf und sofort breitete sich ein inniges Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Das unscheinbarste und zugleich wertvollste Geschenk, das er heute bekommen hatte. Ein Wunsch. Ein freier Wunsch, den Nico ihm erfüllen wollte. Und den nur Nico ihm erfüllen konnte.
Endlich sank Elias auf seine Matratze und hielt das Blatt Papier gegen das schwache Licht, welches durchs Fenster fiel. Es war eine Angewohnheit von ihm, die Jalousien oben zu lassen, denn von seiner Wohnung im ersten Obergeschoss aus blickte man genau auf die Kirchtürme. In manch einer Nacht sahen sie so irreal aus, wie das Cover eines Fantasybuches. Ebenso wie heute.
Der Mond stand über dem alten Gebäude und erleuchtete es, tauchte es in kalten Glanz. Elias fiel es nicht leicht, die Augen zu schließen und dieses Bild auszusperren, das ihm jedes Mal einen Schauder bereitete. Wären seine Lider nur nicht so tonnenschwer … und sein Kopf nicht so überfüllt …
Ob Nico mit diesem Präsent tatsächlich ein bestimmtes Ziel verfolgte? Er hatte von einem Wunsch geredet, den Elias nicht auszusprechen wagte. Einem Wunsch, der Konsequenzen nach sich ziehen würde. Einem Wunsch, dessen Äußerung ihm das gemeinsame Foto erleichtern sollte.
Also wusste Nico über Elias’ Gefühle Bescheid, die er schon so lange ausgerechnet für seinen besten Freund hegte? Bereits vom ersten Moment an hatte Elias ihn beeindruckend gefunden. Damals hatte er es sich selbst gegenüber als Bewunderung für Nicos außergewöhnliche Art abgetan. Doch immer öfter waren Empfindungen in ihm aufgekommen, die weit über bloße Bewunderung hinausgingen. Und spätestens mit Ende jenes Tages, an dem die Aufnahme in Elias’ Hand entstanden war, war es um ihn geschehen gewesen. Elias hatte sich verliebt, hatte kaum den Blick von seinem Kumpel abwenden können – sich aber dazu gezwungen, um keinen Verdacht in diesem zu wecken. Dennoch brauchte Elias, wie auch in diesen Sekunden, nur die Augen zu schließen, um erneut Nicos Gesicht vor sich zu sehen. Er sah es mit allen Details, die er in nunmehr drei Jahren in sich aufgesogen hatte. Sah diese unfassbar grünen Augen, von denen man glauben könnte, sie würden im Dunkeln leuchten. Sah die wundervoll geschwungenen Lippen … Die Lippen, die Elias küssen wollte. Mehr als alles andere auf der Welt.
Das war sein Wunsch. Der, der so viele Konsequenzen mit sich ziehen würde. Der, der einfach verrückt war. Der, den nur Nico ihm erfüllen konnte.
Und es war der Wunsch, den Elias morgen versuchen würde auszusprechen. Ein Wunsch, der kaum in Worte zu fassen war, ohne dass er zwangsläufig an Bedeutung verlor. Denn Worte könnten nie zum Ausdruck bringen, was Elias empfand.
Etwas, das Nico nicht empfand. Da bildete er sich nichts ein. Allein deshalb hatte Elias noch nie über seine Gefühle geredet. Und selbst morgen, so überlegte er jetzt, würde er die Bitte notfalls in einen Scherz verwandeln. Falls Nico zu Lachen beginnen oder ihn verstört anstarren sollte, würde Elias ihm grinsend vorgaukeln, er habe nur einen Witz gemacht. So oder so, er würde sich seinem Freund öffnen. Irgendwie.
Das Geschenk auf die Nachtkonsole gelegt, fiel Elias langsam in den lang ersehnten Schlaf. Keinen tiefen Schlaf, sondern vielmehr einen, der knapp an der Dämmergrenze kratzte und jeden Moment an die Oberfläche, die Realität, zu schwappen drohte.
Unzählige Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf, an die er sich am nächsten Morgen nur noch schwach erinnern würde: rote Lippen, ein greller Mond, Kirchtürme in kaltem Licht.
Immer wieder rote Lippen, ein greller Mond, Kirchtürme in kaltem Licht …
***
Nicht der grelle Mond, sondern eine wahrhaftig unhöflich grelle Taschenlampe blendete Elias, als er am nächsten Abend auf ein spätes Klingeln hin die Wohnungstür öffnete. Vor ihm stand Nico.
„Hey!“ Er kam über die Türschwelle und drängte Elias aus dem Weg. „Ich hab mir überlegt, bevor du mir endgültig deinen Wunsch verrätst, sollten wir noch … ein wenig spazieren gehen. Einfach etwas Zeit miteinander verbringen.“
„Ich … Klar.“
Elias nickte unschlüssig. Er hatte den gesamten Tag seine Konzentration darauf verschwendet, nicht an diesen Augenblick zu denken. Denn der Schlaf hatte nicht nur den Promillewert in seinem Blut auf ein Minimum gesenkt: Der Schlaf hatte ihm ebenso den vor wenigen Stunden noch vorhandenen Mut genommen. Mehr noch; als Nico weder angerufen
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