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Blutige Spuren

Blutige Spuren

Titel: Blutige Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Liemann
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von Analyse. Bei der 100 hatte er aufgegeben.
    Die Frau sprach über die Enttäuschungen ihres Lebens. Ihre gegenwärtige Welt schien freundlich zu sein, ihre Sicht beinahe naiv. Die Liebe, von der sie erzählte, die Gespräche und vor allem das Basteln … Basteln, dachte er – eine Frau um die fünfzig, die ihre Krisen überwindet, indem sie bastelt! Ausgerechnet! Kann es etwas Traurigeres und zugleich Liebenswürdigeres geben als eine ehemalige Trinkerin, die bastelt? Vielleicht, dachte Kai Sternenberg, ist das nur meine eigene Sicht, weil ich die ganze Bastelei für überflüssig halte.
    Das Gespräch ist mir entglitten, sinnierte er müde, dennoch vermochte er es einfach nicht, sich von ihrer Stimme loszureißen. Sie führte das Gespräch. Sie führte. Sie hat früher getrunken, wahrscheinlich trinkt sie auch jetzt noch. Sogar während wir sprechen. Ich schiebe das einfach beiseite. Es ist völlig falsch, was ich mache. Er klappte die Kladde zu.
    » Ich liebe dich. Auch wenn ich nicht weiß, wie du heißt « , sagte sie.
    » Hm … «
    » Was denn? Ich liebe dich, so wie ich meinen kleinen achtzehnjährigen Freund liebe. Eine ehrliche Liebe, ganz harmlos. Hast du Angst? «
    » Angst? Nein, ich habe keine Angst vor Liebe. Aber wir kennen uns nicht, Sie kennen mich nicht. «
    Sie lachte rau. » Natürlich nicht. Ich liebe deine Stimme, mehr kenne ich ja nicht von dir. Die Art, wie du die Dinge sagst, wie du Pausen machst und irritiert bist. Deine Empfindsamkeit, weißt du? Die hat etwas Zärtliches. Das ist eine sehr seltene Gabe. «
    » Sie haben oft das Gegenteil davon erlebt. «
    » Ja, aber … Es gibt ja wieder Licht in meinem Leben. «
    » Hm. Sie sollten dieses Gespräch vielleicht nicht überbewerten. «
    Sie lachte wieder. » Dich meine ich nicht. Ich meine meinen kleinen Sunshine. Das ist nicht der Junge, mit dem ich gebastelt habe. Der ist über alle sieben Berge, mit seinem Lover. Sunshine ist eine … ein bezauberndes Wesen, das ich wirklich liebe. «
    » Aha « , sagte Sternenberg und richtete sich im Sessel auf. Noch eine Personenbeschreibung, die jetzt kommt. Die Uhr zeigte 3.58 und rückte gerade eine Minute weiter.
    » Ja, sie ist ein Lichtblick. Sie ist eine poetische, eine sanfte Frau. Sie würde dir gefallen. Oder stehst du nicht auf Frauen? «
    Nie würde er bei der Telefonseelsorge auf eine solche Frage antworten. » Doch, doch « , meinte er.
    Schon wieder einen Vorsatz gebrochen …
    » Ich liebe ihr Lächeln, weißt du. Sie hat ausgeprägte Lachfalten und Grübchen. Wenn sie lächelt, dann ziehen sich ihre Mundwinkel ganz leicht nach unten, so als machte sie sich gleichzeitig über sich selbst lustig. Ich liebe das sehr. Sie hat so – glatte Haare, in der Mitte gescheitelt, und das eine Ohr schaut heraus, das sieht niedlich aus. In den Haaren hat sie einige Zöpfchen, dünn, mit kleinen Perlen. Außerdem trägt sie eine Felljacke mit Knöpfen und Riemen sowie eine Feder am Revers. Sie ist Menominee, weißt du? «
    » Was ist sie? «
    » Sie ist eine Halbindianerin, vom Stamm der Menominee. Ich habe mich gefragt, was ihrem schmalen, eigentlich nicht recht besonderen Gesicht die tiefe Note gibt. Wahrscheinlich ist es der Umstand, dass ihr Vater – oder ihre Mutter, ich weiß das nicht – Indianerblut hat. Ich liebe ihr Lächeln, ich könnte sie die ganze Zeit küssen.
    Ohne jeden Zweifel ist sie eine verletzte Person, weißt du. Ich meine, sie hat ihre Narben. Das macht ihr Lächeln unwiderstehlich. Ich möchte ihr immerzu über die braunen Haare und über die Ohren streicheln. Sie hat so viel Schlimmes mitgemacht. Weißt du, sie war noch in der Schule, da ist sie schwanger geworden. Sie war dreizehn. Eine Schülerin mit den besten Noten, etwas flippig natürlich. Sicherlich auch rebellisch, weil sie gesehen hat, wie die Indianer behandelt werden. Das war Rassentrennung damals in Texas. Die meisten wissen das nicht mehr. Die Leute hatten Schilder, auf denen stand: Für Indianer verboten. Wie bei den Juden. Und wie in Südafrika. «
    Kai Sternenberg räusperte sich.
    » Jedenfalls hat man sie von der Schule vergrault, weil sie schwanger war. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben sie vergrault, verstehst du? Die brauchten keine autoritäre Schulleitung oder so ein Elternforum, um ihre moralischen Ressentiments gegen sie loszulassen. Die Schüler waren ihre Feinde. Sie haben eine ihrer Besten vertrieben. Sunshine musste ihr Kind zur Adoption freigeben. Ich meine, weißt du, was das

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