Blutige Spuren
1
Isabel verließ die Stadtautobahn und bog in den Hermsdorfer Damm. Der Forst bedrängte die Straße wie ein Tunnel. Die Scheinwerfer saugten die Regentropfen auf, und die Wischer quietschten in Intervallen. Es war der 20. Oktober, 4.05 Uhr. Seit Borsigwalde hatte Isabel kein anderes Auto gesehen.
Sie rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln, dann griff sie sich eine CD , die auf dem Beifahrersitz lag, und versuchte, die Hülle allein mit der rechten Hand zu öffnen.
Ihre Eltern schickten mehrmals im Jahr Päckchen aus Lissabon nach Berlin, immer mit einem kurzen Brief in der geschniegelten Schrift der Mutter, den der Vater mit Druckbuchstaben unterzeichnete.
Meist lagen Halstücher bei, die Isabel verschenkte, und nur selten fehlte der bolo rei, der Königskuchen mit den kandierten Früchten und der traditionellen Bohne. Wer die Favabohne in seinem Stück findet, muss den nächsten Kuchen backen.
Diesmal war es der bolo rei für Allerheiligen. Das Päckchen davor war Anfang Oktober gekommen. Der Vater hatte sich mit seiner Forderung durchgesetzt, staatliche Feiertage und Familienfeste ebenso wichtig zu nehmen wie die kirchlichen. So gab es also Post von ihren Eltern regelmäßig auch zum jährlichen Dia da República. Isabel backte nie und schickte auch keine Päckchen nach Portugal. Sie hatte den Eindruck, dass ihre Mutter in einem Akt des tätigen Protestes die nicht-kirchlichen Versorgungspakete weit weniger liebevoll und üppig zusammenstellte. So führen sie ihren kleinen Krieg weiter, dachte Isabel, und wie früher bin ich das Opfer.
Sie schaute in den Rückspiegel. Wenn man die Größe eines Festtagskuchens und die Menge an Tüchern als einen Opfer-Tatbestand gelten lassen will. Und die Anzahl von Fado- CD s.
Jetzt hatte sie die CD aus der Hülle genommen und tippte mit dem Mittelfinger auf die Tasten des Players. Sie hasste Fado. Seit beinahe zehn Jahren nervten ihre Eltern sie mit Fado- CD s jeder Schattierung, manche hatte sie sogar doppelt geschickt bekommen. Sie öffnete sie nicht mehr, sondern tauschte sie bei einem Händler, der sie mittlerweile als beste Fado-Lieferantin bezeichnete, gegen neue brasilianische Musik ein. Ich habe es aufgegeben, meine Eltern zu korrigieren, dachte Isabel. Ist das Liebe – oder ein Rest von Rebellion?
Fernanda Abreu sang sou urbano canibal. Isabel schlug mit den Händen im Takt gegen das Lenkrad und sang laut mit. Sie liebte die brasilianische Varietät der portugiesischen Sprache. Sie liebte Brasilien. Das Land, aus dem ihre Vorfahren stammten und in dem sie noch nie war.
Sou urbano canibal,
feito de carne e aço,
semente e bagaço,
plantado no asfalto,
no meio de tudo …
Nach dem Tegeler Forst kamen die Hermsdorfer Seitenstraßen. Parkende Autos, matt leuchtende Laternen, teilweise verdeckt von Bäumen, die fast alle noch Laub trugen. Nirgendwo ein Mensch in der Nässe der Nacht.
Sie unterquerte eine Bahntrasse, bog nach links ab und ignorierte eine rote Ampel. Nach einer Weile des Singens und Wippens fuhr sie langsamer und achtete auf die Straßennamen. Burgfrauenstraße. Isabel grinste.
Sie geriet in eine Art Kreisverkehr, mit dem sie nicht gerechnet hatte, kurvte herum und bog irgendwo ein, um festzustellen, dass sie sich wohl verfahren hatte.
Unter den CD -Hüllen und der Handtasche suchte sie nach dem Stadtplan, konnte ihn aber nicht finden.
Sie hielt an und drehte die Heizung herunter. Fernanda Abreu sang von der Megalópole-Cidade, während Isabel das Gefühl hatte, sich in allem anderen als in einer Großstadt verirrt zu haben. Sie stellte die Musik leise – und erschrak, als der Scheibenwischer einsetzte. Sie hörte den Regen auf dem Autodach.
Gralsritterweg, las sie an der Ecke. Sie suchte im Handschuhfach, aus dem ihr eine Kleenex-Packung entgegenfiel. Endlich hatte sie den Plan. Zum Lesen knipste sie das Licht an.
Ich bin auf der falschen Seite, dachte sie, ich muss zur Markgrafenstraße rüber.
Es klopfte an einer der hinteren Seitenscheiben.
Sie fuhr herum und sah im Dunkeln niemanden.
Licht aus.
Niemand.
Gleichzeitig blickte sie in den Rückspiegel und fasste an ihre Brusttasche. Das Handy hatte sie dabei, ihre Waffe hingegen hatte sie vergessen.
Wieder klopfte es heftig gegen den Wagen.
Isabel reckte sich, um in alle Richtungen zu sehen. Toter Winkel.
Ihre Hand hatte sie nun am Zündschlüssel, aber als sie ihn drehte, würgte sie den Motor ab. Toter Winkel.
Während sie erneut startete, bemerkte sie einen Schatten auf
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