Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
Leonie fasste ein bisschen Hoffnung. Kain aber redete weiter.
»Ich sag dir eins. Du denkst, dass du Alessio bist. Aber ohne uns bist du nichts. Ich werde Gianluca davon erzählen, und er wird dich endlich achten. Er hatte große Zweifel, weißt du, und nicht nur wegen Giorgio, den ihr um die Ecke gebracht habt.«
Alessio hob die Waffe und richtete sie mit beiden Händen auf Fabian, der ihn unbeweglich anschaute. Er hat auf dem Schießstand geübt, dachte Leonie.
»Nein!«, hörte sie sich rufen.
»Er ist unbewaffnet.« Alessio drehte sich zu seinem Bruder um.
»Er ist ein Bulle.«
Fabian sah ihn ruhig an. »Wer sagt, dass du ein Killer werden musst, der Leuten wie mir aus nächster Nähe in die Brust schießt?«
»Sie.« Alessio hob die Waffe ein Stück höher.
»Und wenn du einfach nicht auf das hörst, was sie dir befehlen? Deine Mutter ist im Krankenhaus. Sie hat einen Selbstmordversuch knapp überlebt. Leonie hat sie gerettet.«
Sie sah, wie es in Alessio arbeitete.
»Woher kennt ihr meine Mutter?«
Kain merkte derweil, dass ihm seine Felle entglitten. »Hör nicht auf ihn!«, rief er. »Du solltest die Frau zuerst erschießen. Sie ist eine Verräterin. Weißt du, was sie getan hat?«
Alessio schüttelte den Kopf, während er Fabian fixierte und die Waffe neu auf seine Brust ausrichtete.
»Sie hat Informationen über uns gesammelt und an diese dreckige Schlampe von Journalistin weitergegeben, diese Marian.«
»Das stimmt nicht«, schrie Leonie.
»Sie hat mit Gianluca gefickt, um an diese Informationen zu kommen.«
»Dann hat sie immerhin Mut«, stellte Alessio fest.
Fabian drehte sich langsam zu ihr um. »Stimmt das?«
Tränen schossen in ihre Augen. Sie hatte sich noch nie so geschämt wie in diesem Moment.
Er ließ ihre Hand los, und der Schmerz in ihrem Inneren klang nach wie der tiefste Ton einer Orgel.
»Komm zum Abschluss, Junge! Du weißt, wohin du zielen musst«, sagte Kain. Alessio hob die Waffe und richtete sie auf Leonie. Sie starrte auf die Mündung, oder war das komische Ding vorne der Schalldämpfer?
»Das ist Leandros Mutter«, sagte Alessio, zielte und drückte den Abzug durch.
63.
Ratsch! Bild und Ton verschwanden wie abgeschnitten. Um Mitternacht stellten sie im Esslinger Klinikum mit einem Schlag die Fernsehgeräte aus, die an langen futuristischen Greifarmen unter der Decke hingen. Die Patienten brauchten ihren Schlaf.
Laura Cortese legte die Kopfhörer ab, drehte sich auf die Seite und versuchte, es ihrer Zimmergenossin gleichzutun, die schon seit zwei Stunden schnarchte, als wollte sie die Infusionsständer durchsägen. Aber das war einfacher gesagt, als getan. Ihre Gedanken kreisten um den Polizisten, seine Freundin, um die Aussagen, die sie zu einer Zielscheibe machten. Zum Glück war Alessio in Kalabrien in Sicherheit. Hoffentlich. Ganz genau wusste sie nicht, wie weit der Arm der Blutrache reichen würde. Aber er war immer noch Giorgios Sohn, dachte sie, und ein eingeschworenes Mitglied des Clans, dem sie doch wohl nichts tun würden. Sie wälzte sich hin und her. Schweiß lag wie ein klebriger Film zwischen ihren Schulterblättern, und sie stand auf, um das Fenster einen Spalt weit zu öffnen. Tief atmete sie die frische Nachtluft ein. Doch als sie zu ihrem Bett zurückkehrte, vibrierte ihr Handy, und sie wusste, dass sie für ihren Verrat bezahlen musste.
»Komm runter!«, sagte Gianluca.
»Weißt du, wie spät es ist? Das hier ist ein Krankenhaus.«
»Das ist egal. Der Haupteingang ist die ganze Nacht hindurch geöffnet wegen der Notaufnahme.«
»Ich …« Ihr versagte die Stimme. Vielleicht war es besser, wenn er ihr die Entscheidung abnahm. Wie in Trance angelte sie nach ihren Pantoffeln und dem Morgenmantel und verließ leise das Zimmer. Über der Tür zum Nebenraum leuchtete das rote Licht, das die Gegenwart der Nachtschwester anzeigte. Wenn sie sich beeilte, würde niemand ihre Abwesenheit bemerken. Eilig lief sie den Gang entlang, öffnete die Glastür und stieg die Treppe hinab. An ihrem Fuß hielt sie inne und dachte nach. Was tat sie da? Anstatt zu fliehen, irgendwo in den Katakomben des Krankenhauses unterzutauchen, im Heizungskeller, auf dem Dach oder in einer Besenkammer, lief sie ihrem Henker geradewegs in die Arme. Warum? Sie kannte die Antwort. Sie trug die Schuld an Giorgios Tod, einfach weil sie seine Frau gewesen war und ihn nicht aus den Fängen des Kraken befreien konnte. Versagerin , dachte sie, betrat die Halle und schob sich durch
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