Blutiges Schweigen
darf keine Adressen herausgeben.«
Es klopfte an der Tür. Bothwick blickte auf.
»Herein.«
Zwei Mädchen betraten den Raum. Ihre Schritte waren zögerlich,
und ihre Augen huschten zwischen uns beiden hin und her. Die eine war eine Schönheit: zierlich, dezent geschminkt, schlank und weiblich. Die andere war unscheinbarer, kräftiger gebaut und konservativer gekleidet. Aber sie lächelte.
»Kaitlin, Lindsey, das ist Mr Raker. Er untersucht im Auftrag von Megans Eltern ihr Verschwinden.«
Ich stand auf. »David.«
»Lindsey.« Das größere Mädchen strahlte.
Ihre Freundin war zurückhaltender.
»Kaitlin«, sagte sie leise. Sie hatte einen Akzent.
Ich wandte mich an Bothwick. »Kann ich mit ihnen irgendwo hingehen?«
Er wirkte so schockiert, als hätte ich damit gedroht, die Schule anzuzünden. »Was soll das heißen?«
»Ob es in Ordnung ist, wenn ich die Mädchen auf einen Kaffee einlade.«
»Warum?«
»Ich würde einfach gerne ungestört mit ihnen reden.«
Er beäugte mich argwöhnisch. »Ich würde es vorziehen, wenn sie auf dem Schulgelände blieben.«
»Gut. Können wir uns irgendwo hinsetzen, wo uns niemand unterbricht?«
»In die Mensa.«
»Sind dort jetzt keine Schüler mehr?«
»Das Mittagessen ist schon vorbei.«
Ich sah auf die Uhr. Halb drei.
»Einverstanden, dann also in die Mensa.«
4
Die Mensa war ein langer, schmaler Raum mit einem alten Parkettboden, einer hohen Decke und weißem Rauputz an den Wänden. Da sich auf der einen Seite eine Glasfront befand, war der Raum lichtdurchflutet, obwohl Regen gegen die Scheibe prasselte. Dem Fenster gegenüber lag die Küche, wo beleibte Frauen in weißer Arbeitskleidung riesige Behälter mit Essensresten reinigten.
Auf dem Weg hierher hatte Lindsay das Reden übernommen. Sie hatte Megan zuletzt vor der Florida-Reise der Carvers gesehen.
»Mit ihr schien alles in Ordnung zu sein«, verkündete sie und wandte sich an ihre Freundin. »Oder, Kay?«
Kaitlin blickte erst mich und dann ihre Freundin an und nickte.
»Warum habt ihr euch in der Zeit zwischen ihrer Rückkehr und ihrem Verschwinden nicht getroffen?«, fragte ich Lindsay.
»Ich war auf Schüleraustausch in Italien.«
»Was ist mit Ihnen, Kaitlin?«
Kaitlin sah mich rasch an. Sie machte einen nervösen Eindruck, so als befürchte sie Schwierigkeiten. Vermutlich war die Polizei bei ihr zu Hause gewesen, um sie zu vernehmen und die Hintergründe zu ermitteln. Manchmal hatte diese Methode genau die entgegengesetzte Wirkung. Man bedrängte einen Zeugen, weil man das Gefühl hatte, dass er einem etwas verschwieg. Und dabei schwieg er nur, weil er sich bedrängt fühlte. Vielleicht hatte Kaitlin ja ein schlechtes Gewissen. Wenn sie Megan von der vorletzten Unterrichtsstunde abgeholt hätte, anstatt sich an den Spinden mit ihr zu verabreden, wäre sie vielleicht nicht verschwunden. Aber sie hatte
sich nach dem Mittagessen von ihrer Freundin verabschiedet und sie nie wiedergesehen.
»Können Sie mir schildern, was geschehen ist?«, forderte ich sie auf, als wir saßen.
»Das habe ich schon der Polizei erzählt.«
»Ich weiß, und Sie waren eine große Hilfe. Ich versuche nur herauszufinden, ob die Polizei möglicherweise eine Kleinigkeit übersehen hat. Sie bekommen keinen Ärger. Ich möchte nichts weiter als Megans Eltern helfen und herauskriegen, was aus ihr geworden ist.«
Sie nickte, wirkte aber noch immer nervös. Die Hände hatte sie auf die Beine gepresst. Eine Hand rieb sanft über den Oberschenkel.
»Woher kommen Sie eigentlich?«
Sie sah mich finster an. »Tufnell Park.«
»Nein, ich meinte ursprünglich.«
Ihre Miene war weiterhin abweisend. »Südafrika.«
»Das habe ich mir gedacht. Ein schönes Land. Ich habe früher in Südafrika gewohnt.«
Zum ersten Mal veränderte sich etwas an ihrem Gesichtsausdruck, der nun nicht mehr so versteinert, sondern entspannter war. »In welchem Teil?«, erkundigte sie sich.
»Johannesburg.«
Sie nickte. Diesmal jedoch regte sich nichts, so als höre sie mir nur mit halbem Ohr zu. Ich musterte sie eine Weile: ihre Züge, die Hand, die sich auf ihrem Bein bewegte. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob sie aus Schüchternheit so verlegen war oder ob es andere Gründe hatte.
»Kaitlin?«
Sie wandte sich mir zu.
»Könnten Sie mir noch einmal beschreiben, was geschehen ist?«
»Ich habe die Mittagspause mit Meg verbracht«, erwiderte
sie leise. »Anschließend hatte ich Geschichte und sie Physik. Zwischen den Stunden wollten wir
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