Blutiges Schweigen
Kaitlin kurz an. Sie wich meinem Blick aus und wirkte wieder wie versteinert. Abwehrend.
Irgendetwas verschwieg sie mir.
Als ich zurückkam, war Bothwick nicht mehr da. Nach einem raschen Blick in Richtung Empfang, wo eine der Sekretärinnen gerade einen Anruf entgegennahm, schlüpfte ich in sein Büro und schloss die Tür hinter mir. Ich hatte nicht viel Zeit.
Zwei Akten lagen auf der Schreibtischkante, wo er sie hingelegt hatte. Kaitlin und Lindsey. Ich kümmerte mich nicht um Lindseys Akte, sondern griff nach der von Kaitlin. Ein Schulfoto, offenbar vor einigen Jahren aufgenommen. Darunter eine Liste der Fächer, die sie belegt hatte, und ihre Anwesenheitsliste. Der Eindruck war gut. Keine langen Abwesenheiten, keine Anmerkungen in den dafür vorgesehenen Spalten. Auf der nächsten Seite stand ihre Adresse in Tufnell Park, gefolgt von ihrem letzten Zeugnis. Ganz unten: eine Eins für Mitwirkung in der Theater-AG.
Also war sie eindeutig nicht schüchtern.
Ich klappte die Akte zu und legte sie wieder auf den Schreibtisch. Dann öffnete ich die oberste Schublade des Aktenschranks. Die Akte Bryant war die achte. Darin befand sich ein Foto von ihm. Er war ein gut aussehender Junge.
Dunkles Haar, strahlende Augen. Darunter war ein Deckblatt mit seiner Adresse darauf. Er lebte mit seinem Vater in der Nähe von Highgate Wood.
Plötzlich hörte ich draußen Schritte.
Bothwick.
Ich klappte die Akte zu, verstaute sie wieder in der Schublade und schloss diese so leise wie möglich. Eine Sekunde später stand er in der Tür. »Ach«, sagte er, »tut mir leid.«
»Kein Problem.«
»Haben Sie alles erfahren, was Sie wissen wollten?«
Ich lächelte und betrachtete noch einmal die Akten, um mich zu vergewissern, ob sie auch wirklich genau an ihrem Platz lagen. Dann schüttelte ich ihm die Hand und antwortete, ich sei zufrieden.
Lindsey hatte recht: Die Videothek, in der Megan gearbeitet hatte, gab es nicht mehr. Sie war nicht nur heute geschlossen, sondern für immer. Ich fuhr daran vorbei und nahm die Holloway Road zum Haus der Bryants in Highgate. Es war ein dreistöckiges Stadthaus mit Doppelgarage und einer schmiedeeisernen Veranda.
Nirgendwo im Haus brannte auch nur ein einziges Licht.
Ich klingelte und wartete ab. Stille. Nichts rührte sich. Von drinnen war kein Laut zu hören. Als es anfing zu regnen — erst ein Nieseln, dann schwere Tropfen –, trat ich von der Veranda und schlenderte zur Seite des Hauses. Hinter einem verschlossenen Tor begann ein Pfad, der parallel zum Haus verlief. Ich konnte ein Stück Garten sehen, aber nicht viel mehr. Also klingelte ich noch einmal an der Tür. Als wieder keiner aufmachte, kehrte ich im Regen zum Auto zurück.
5
Drei Wochen vor Weihnachten war ein Flugblatt unter meiner Tür durchgeschoben worden. Es stammte von einer Selbsthilfegruppe für Witwen und Witwer unter fünfundvierzig Jahren. Ich glaubte nicht an das Schicksal. Eigentlich glaubte ich an gar nichts. Allerdings konnte ich nachvollziehen, dass es gläubige Menschen gab, als das Flugblatt auf meiner Fußmatte landete. Ich hatte gerade einen Fall abgeschlossen, bei dem ich beinahe zu Tode gekommen wäre. Und ich hatte Weihnachten allein verbracht und mir alte Filmaufnahmen von Derryn angesehen. Also war ich körperlich und seelisch auf dem Tiefpunkt. Deshalb beschloss ich in der zweiten Januarwoche spontan, zu einem der Treffen zu gehen, obwohl ich mir nicht viel davon versprach. Neun Monate später waren diese Treffen zum festen Bestandteil meiner Woche geworden.
An den meisten Dienstagen versammelten wir uns in der Volkshochschule in Acton in einem Raum, der nach abgestandenem Kaffee roch. Doch einmal im Monat legten wir zusammen und besuchten irgendein Restaurant. Wenn ich nicht bereits versprochen hätte zu erscheinen, hätte ich vielleicht abgesagt, um mich auf den Fall Carver zu konzentrieren. Doch dafür war es jetzt zu spät. Also fuhr ich vom Haus der Bryants in mein Büro in Ealing, um mich frischzumachen und umzuziehen, und brach dann auf ins Restaurant. Diesmal war es ein Thailänder in Kew in der Nähe des Flusses.
Als ich eintrat, brutzelte etwas in der Küche. Der Geruch von Kokosnuss und Sojasauce lag in der Luft. Die vierzehn anderen Mitglieder der Gruppe saßen an einem großen Tisch am Fenster. Die Leiterin war eine kleine, pummelige Zweiunddreißigjährige namens Jenny. Ihr Mann hatte einen Herzinfarkt erlitten, als er am Bahnhof King’s Cross seinem Zug
nachgerannt war.
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