Blutiges Schweigen
Als sie mich sah, kam sie auf mich zu und küsste mich auf die Wange. Ich hatte Jenny auf Anhieb gemocht. Sie war lebhaft, schlagfertig und humorvoll, hatte jedoch auch ein Gespür für Menschen und die Fähigkeit, ihre Gefühle zu deuten und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Wir gingen gemeinsam zum Tisch, wo ich mich bei allen für die Verspätung entschuldigte, Hände schüttelte und einige feste Mitglieder begrüßte. Es waren noch zwei Plätze frei. Einer neben einem Wirtschaftsprüfer namens Roger, der sich nach einigen Gläsern Rotwein stets über die PS seines Mazda RX-8 ausließ, der andere am Ende des Tisches neben zwei Leuten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
»David, wir haben heute Abend zwei Neue hier«, verkündete Jenny. Sie beugte sich zu mir herüber, während wir uns ihnen näherten. »Ich hatte gehofft, dass du sie ein wenig unterhalten würdest.«
Jenny stellte sie als Aron und Jill vor. Sie hatten beide ihren Partner verloren und sich kennengelernt, weil sie jeden Morgen in derselben Kaffeebar ihren Kaffee holten. Ich fragte mich, ob sie inzwischen eine Beziehung führten, doch sie saßen getrennt voneinander am Tisch, und als wir ins Gespräch kamen, redeten sie über ihre Partner auf eine Weise, die mir klarmachte, dass sie kein Paar waren.
Wir bestellten und verbrachten die nächste halbe Stunde damit, höflich Konversation zu betreiben: das Wetter, der Verkehr und ein Parlamentsabgeordneter, der mit einem Strichjungen und heruntergelassener Hose in einer öffentlichen Toilette in Bayswater erwischt worden war. Die beiden machten einen sympathischen Eindruck. Sie war etwa in meinem Alter, also auf der falschen Seite der Vierzig, und hatte tiefblaue Augen — so wie man sich das Meer an Urlaubsorten vorstellt, die man sich nicht leisten kann –, kleine Hautunreinheiten, die Aknenarben ähnelten, und eine winzige Einkerbung
am Kinn. Offenbar war sie sich dieser beiden Dinge stark bewusst, denn beim Sprechen wanderten ihre Hände immer wieder zu ihrem Gesicht. Die Finger der einen Hand ruhten an ihrem Kiefer, die andere schob das blonde Haar hinter die Ohren. Dieser Anflug von Schüchternheit war eine reizende Eigenschaft.
Er war Mitte bis Ende dreißig, hatte dunkelbraunes Haar und ebensolche Augen und eine leicht schiefe Nase, als ob sie einmal gebrochen gewesen und nicht richtig behandelt worden wäre. Seine Kleidung war konservativ — Hemd mit Kragen, graue Hose, schlichtes Sakko. Wenn ich hätte raten müssen, ich hätte auf Anzugträger aus der Finanzbranche getippt, der in der Hölle des mittleren Managements schmorte. Er wirkte gestresst, so als stünde ihm das Wasser immer bis zum Hals.
»Und was machen Sie beruflich, David?«, erkundigte er sich.
»Ich suche vermisste Personen.«
»Wie ein Ermittler?«
»Ja, so ungefähr.« Ich lächelte. »Nur, dass ich keine Marke vorzeigen und keine Türen eintreten darf.«
Aron lachte, Jill lächelte säuerlich, als hätte ich sie gerade beleidigt. Ich überlegte, was ich gerade gesagt hatte. Vielleicht die Anspielung auf die Polizei.
Aron sah erst sie und dann mich an. »Jills Mann war Polizist. Er wurde …« Wieder blickte er sie an. Sie gab ihm mit einem Nicken die Erlaubnis, die Geschichte zu erzählen. »Er wurde im Dienst getötet. Erschossen.« Er hielt inne. »Und sie versucht immer noch, den Täter zu finden.«
»Oh, das tut mir aber leid«, erwiderte ich.
Sie hob die Hand. »Schon gut. Es ist fast ein Jahr her. Inzwischen sollte ich meine Gefühle besser verstecken können.« Sie lächelte, diesmal war es echt.
Das Gespräch wandte sich wieder allgemeineren Themen
zu — Filme, Sport, noch einmal das Wetter –, bis wir auf die Frage kamen, was uns nach London geführt hatte. Jill arbeitete im Marketing und war erst vor Kurzem hierhergezogen, nachdem ihr Mann eine Stelle bei der Metropolitan Police bekommen hatte. Aron bestätigte meinen Verdacht, er sei in der Finanzbranche beschäftigt, denn er war Mitarbeiter einer Investmentbank am Canary Wharf. Und dann schloss sich der Kreis wieder, denn wir kamen auf meinen Beruf zu sprechen.
»Und macht es Ihnen Spaß?«, fragte Jill.
»Ja, meistens schon.« Ich hielt die linke Hand hoch und wackelte mit den Fingern, deren Nägel beschädigt waren. »Allerdings nicht immer. Manchmal tut es einfach nur weh.«
»Wie haben Sie denn das gemacht?«
Ich betrachtete meine Finger. »Einige Leute bleiben lieber in ihrem Versteck«, entgegnete ich, um die Sache nicht an die
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