Blutköder
musterte die gewaltigen Schädel und die kräftigen Kiefer auf den Fotos. Tatzen, die einen starken Mann umwerfen, und Krallen, die ihm mühelos die Gedärme aus dem Leib reißen konnten. Dennoch empfand sie keine Angst.
Mitglieder der Einsatzgruppe, die die Bären im Park überwachte und Auseinandersetzungen zwischen den Tieren und Besuchern schlichtete, beklagten sich ebenso wie die hiesigen Parkpolizisten regelmäßig darüber, wie verblödet die Amerikaner seien, weil sie die Bären als Kuscheltiere betrachteten. Ein Mann musste sogar daran gehindert werden, seinem fünfjährigen Sohn Eiscreme ins Gesicht zu schmieren, um zu fotografieren, wie ein Bär es ableckte.
Anna kannte sich zu gut mit den Lebensgewohnheiten wilder Tiere aus, um Bären für harmlos zu halten. Allerdings gehörte sie zu einer zweiten und nicht minder gefährlichen Art von Dummköpfen, zu den Leuten nämlich, die sich wilden Tieren, ganz gleich ob nun mit Flügeln, Fell oder Zähnen ausgestattet, spirituell verbunden fühlten. Die Überzeugung, dass sie sie als Fürsprecherin erkennen und sie nicht angreifen würden, verhinderte die notwendige und lebenserhaltende Angst davor, zerrissen und verschlungen zu werden. Allerdings erstreckte sich diese Wahnvorstellung nicht auf afrikanische Löwen. Von ihnen konnte man nun wirklich nicht erwarten, dass sie ausländische Touristen verschonten, denn schließlich hatte jeder hin und wieder Lust auf eine Abwechslung auf dem Speisezettel. Aber amerikanische Löwen und Bären …
Anna musste über sich selbst lachen. Zum Glück war sie nicht so leichtsinnig, die Kameradschaft zwischen den Arten auf die Probe zu stellen. Außerdem hätte sie diese Gefühle niemals einem anderen Menschen gestanden. Am allerwenigsten Joan Rand, ihrer Aufseherin, Ausbilderin und Begleiterin während der neunzehn Tage, die sie sich mit dem Bären- DNA -Projekt im Glacier-Park vertraut machen würde. Das hier erworbene Wissen würde ihr helfen, die Tierwelt an ihrem Arbeitsplatz, dem Natchez Trace Parkway in Mississippi, besser zu betreuen.
»So, meine stinkende kleine Freundin, dein Urlaubsgepäck ist fertig«, verkündete Joan, die gerade aus dem Allerheiligsten kam. Rand war zwar von Geburt Amerikanerin, lebte allerdings schon lange an der Grenze zum französischsprachigen Teil Kanadas und konnte, wenn sie wollte, genauso klingen wie Pepé Le Pew, das Pariser Comic-Stinktier. Anna lachte. Joan erinnerte sich gewiss noch an Pepe, denn sie war etwa in Annas Alter, befand sich also irgendwo in dem fruchtbaren Tal der mittleren Lebensjahre zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig.
Anna hatte Joan auf Anhieb sympathisch gefunden. Rand war mit ihren einssechzig ziemlich kurz geraten und pummelig. Sie hatte die schmalen Schultern eines Menschen, der nicht viel tragen konnte, und den breiten Hintern und die kräftigen Oberschenkel einer Person, der es ohne Weiteres gelingen würde, einen Ausbilder bei der Armee in Grund und Boden zu marschieren.
Anna mochte ihren scharfen Verstand, ihre raue Stimme und ihre Schlagfertigkeit, auch wenn sie die beiden Tage, die sie nun schon zusammenarbeiteten, nicht als ungezwungen erlebt hatte. Sie wurde das Gefühl nicht los, ständig nach einem Gesprächsthema suchen zu müssen. Meistens wurde das Schweigen mit Arbeit überspielt. War das nicht möglich, breitete sich rasch Beklommenheit aus, aber Anna hatte noch Hoffnung.
Inzwischen hatte die Bärenforscherin den Stinktier-Akzent abgelegt und rückte ihre gewaltige Brille zurecht. »Setz dich. Das ist Rory Van Slyke, unser Sherpa von Earthwatch und Mädchen für alles. Er hat versprochen, im Fall eines Bärenangriffs seinen knackigen jungen Körper zu opfern, damit wir beide überleben und unser wichtiges Werk vollenden können.«
Rory, den Joan gerade vorgestellt hatte, lächelte schüchtern. Während ihrer Jahre als Mitarbeiterin eines Nationalparks war Anna nur einmal Angehörigen der Organisation Earthwatch begegnet. Als sie vor einiger Zeit als Parkpolizistin im Isle Royale National Park Bootspatrouillen auf dem Lake Superior gefahren war, hatten Mitglieder von Earthwatch – eines unabhängigen, mit Spenden finanzierten und von ehrenamtlichen Mitarbeitern betriebenen Umweltverbandes – gemeinsam mit der Nationalen Parkverwaltung die Lebensgewohnheiten der Elche erforscht. Die freiwilligen Helfer hatten die undankbare Aufgabe gehabt, die unwegsamsten Gebiete eines unwirtlichen Nationalparks zu durchstreifen, nach toten und
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